Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_269.001 pwa_269.007 pwa_269.033 pwa_269.001 pwa_269.007 pwa_269.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0287" n="269"/><lb n="pwa_269.001"/> und der Verfasser ist fort und fort zu demselben episodischen <lb n="pwa_269.002"/> Verfahren genöthigt, das wir bereits in der Epopöie (S. 83) und in <lb n="pwa_269.003"/> den meisten Arten der Geschichtsschreibung (S. 249) gefunden haben; <lb n="pwa_269.004"/> in der blossen Abhandlung ist wie in der Biographie und im einfachen <lb n="pwa_269.005"/> Heldenliede der Regel nach kein Anlass zu einer solchen <lb n="pwa_269.006"/> episodischen Behandlungsweise.</p> <p><lb n="pwa_269.007"/> Es giebt nun noch zwei mehr künstlerische Gestaltungen der abhandelnden <lb n="pwa_269.008"/> Prosa, die Form des <hi rendition="#b">Dialogs</hi> und die <hi rendition="#b">Briefform.</hi> Wir sind <lb n="pwa_269.009"/> beiden Formen bereits im Gebiet der erzählenden Prosa, des Romans, <lb n="pwa_269.010"/> begegnet, und wie wir sie dort kennen lernten als Mittel, eine dargestellte <lb n="pwa_269.011"/> Persönlichkeit noch individueller zu characterisieren, so werden <lb n="pwa_269.012"/> sie auch in der abhandelnden Prosa dann angewendet, wenn es darauf <lb n="pwa_269.013"/> ankommt, einen wissenschaftlichen Satz oder eine Reihe von Sätzen in <lb n="pwa_269.014"/> der grössten Anschaulichkeit darzustellen und recht siegreich überzeugend <lb n="pwa_269.015"/> durchzuführen. Denn mit diesen Formen ist die Möglichkeit gegeben, die <lb n="pwa_269.016"/> behauptete Wahrheit so erschöpfend von verschiedenen Standpuncten <lb n="pwa_269.017"/> aus zu betrachten und alle Einwürfe, auch die unbedeutendsten, in <lb n="pwa_269.018"/> solcher Ausführlichkeit hin und her zu überlegen und wo nöthig auch <lb n="pwa_269.019"/> zu widerlegen, wie das in der Form der gewöhnlichen Abhandlung <lb n="pwa_269.020"/> nur selten angeht. Und natürlich sind diese Vortheile bei dem schneller <lb n="pwa_269.021"/> wechselnden Dialog in noch reicherem Masse vorhanden als bei der <lb n="pwa_269.022"/> Briefform. Die letztere wird deshalb auch auf Gegenstände, wie sie <lb n="pwa_269.023"/> hier in Betracht kommen, nur seltener angewendet. Ein vorzügliches <lb n="pwa_269.024"/> Beispiel sind die polemischen Briefe Lessings, die an den Pastor <lb n="pwa_269.025"/> Göze in Hamburg 1778 gerichteten über theologische Dinge, und die <lb n="pwa_269.026"/> Briefe antiquarischen Inhalts von 1768. Beidemal haben wir da keinen <lb n="pwa_269.027"/> eigentlichen Briefwechsel, es sind Alles nur Briefe von Lessing, <lb n="pwa_269.028"/> aber sämmtlich in einer so lebendig individuellen Bezüglichkeit, dass <lb n="pwa_269.029"/> man keine Fragen und Antworten von der anderen Seite her vermisst. <lb n="pwa_269.030"/> Sie sind auf dem Gebiete der abhandelnden Prosa dasselbe, was auf <lb n="pwa_269.031"/> dem des Romans Göthes Werther, wo die Briefe auch alle nur von <lb n="pwa_269.032"/> Einer Seite geschrieben sind.</p> <p><lb n="pwa_269.033"/> Häufiger war von jeher der Dialog. Der Dialog als umkleidende <lb n="pwa_269.034"/> Form der Abhandlung war schon im griechischen und römischen Alterthum <lb n="pwa_269.035"/> bekannt und beliebt, und auch von Neueren wird er häufig genug <lb n="pwa_269.036"/> gebraucht; in Deutschland zuerst von Johann Jacob Engel und Moses <lb n="pwa_269.037"/> Mendelssohn (Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drei <lb n="pwa_269.038"/> Gesprächen 1767). Zu Zwischenrednern des lehrhaften Dialoges werden <lb n="pwa_269.039"/> zuweilen fingierte Persönlichkeiten mit willkürlich ihnen beigelegten <lb n="pwa_269.040"/> Characteren und Ansichten gemacht: so bei Lessing (Ernst und Falk, <lb n="pwa_269.041"/> Gespräche für Freimaurer 1778), bei Karl Wilh. Ferd. Solger (Erwin, </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [269/0287]
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und der Verfasser ist fort und fort zu demselben episodischen pwa_269.002
Verfahren genöthigt, das wir bereits in der Epopöie (S. 83) und in pwa_269.003
den meisten Arten der Geschichtsschreibung (S. 249) gefunden haben; pwa_269.004
in der blossen Abhandlung ist wie in der Biographie und im einfachen pwa_269.005
Heldenliede der Regel nach kein Anlass zu einer solchen pwa_269.006
episodischen Behandlungsweise.
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Es giebt nun noch zwei mehr künstlerische Gestaltungen der abhandelnden pwa_269.008
Prosa, die Form des Dialogs und die Briefform. Wir sind pwa_269.009
beiden Formen bereits im Gebiet der erzählenden Prosa, des Romans, pwa_269.010
begegnet, und wie wir sie dort kennen lernten als Mittel, eine dargestellte pwa_269.011
Persönlichkeit noch individueller zu characterisieren, so werden pwa_269.012
sie auch in der abhandelnden Prosa dann angewendet, wenn es darauf pwa_269.013
ankommt, einen wissenschaftlichen Satz oder eine Reihe von Sätzen in pwa_269.014
der grössten Anschaulichkeit darzustellen und recht siegreich überzeugend pwa_269.015
durchzuführen. Denn mit diesen Formen ist die Möglichkeit gegeben, die pwa_269.016
behauptete Wahrheit so erschöpfend von verschiedenen Standpuncten pwa_269.017
aus zu betrachten und alle Einwürfe, auch die unbedeutendsten, in pwa_269.018
solcher Ausführlichkeit hin und her zu überlegen und wo nöthig auch pwa_269.019
zu widerlegen, wie das in der Form der gewöhnlichen Abhandlung pwa_269.020
nur selten angeht. Und natürlich sind diese Vortheile bei dem schneller pwa_269.021
wechselnden Dialog in noch reicherem Masse vorhanden als bei der pwa_269.022
Briefform. Die letztere wird deshalb auch auf Gegenstände, wie sie pwa_269.023
hier in Betracht kommen, nur seltener angewendet. Ein vorzügliches pwa_269.024
Beispiel sind die polemischen Briefe Lessings, die an den Pastor pwa_269.025
Göze in Hamburg 1778 gerichteten über theologische Dinge, und die pwa_269.026
Briefe antiquarischen Inhalts von 1768. Beidemal haben wir da keinen pwa_269.027
eigentlichen Briefwechsel, es sind Alles nur Briefe von Lessing, pwa_269.028
aber sämmtlich in einer so lebendig individuellen Bezüglichkeit, dass pwa_269.029
man keine Fragen und Antworten von der anderen Seite her vermisst. pwa_269.030
Sie sind auf dem Gebiete der abhandelnden Prosa dasselbe, was auf pwa_269.031
dem des Romans Göthes Werther, wo die Briefe auch alle nur von pwa_269.032
Einer Seite geschrieben sind.
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Häufiger war von jeher der Dialog. Der Dialog als umkleidende pwa_269.034
Form der Abhandlung war schon im griechischen und römischen Alterthum pwa_269.035
bekannt und beliebt, und auch von Neueren wird er häufig genug pwa_269.036
gebraucht; in Deutschland zuerst von Johann Jacob Engel und Moses pwa_269.037
Mendelssohn (Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drei pwa_269.038
Gesprächen 1767). Zu Zwischenrednern des lehrhaften Dialoges werden pwa_269.039
zuweilen fingierte Persönlichkeiten mit willkürlich ihnen beigelegten pwa_269.040
Characteren und Ansichten gemacht: so bei Lessing (Ernst und Falk, pwa_269.041
Gespräche für Freimaurer 1778), bei Karl Wilh. Ferd. Solger (Erwin,
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