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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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haben und immer noch finden, einen erfreulichen Ueberrest des epischen pwa_252.002
Geistes erkennen, der einst alle Völker Europas und vor allen das pwa_252.003
deutsche beseelt hat. Wohl zu unterscheiden von diesen halbhistorischen pwa_252.004
Romanen sind die eigentlich historischen, wie sie bei uns im pwa_252.005
siebzehnten Jahrhundert durch Daniel Caspar von Lohenstein, später pwa_252.006
wieder, im achtzehnten Jahrhundert, durch August Gottlieb Meissner pwa_252.007
und Ignaz Aurelius Fessler aufgekommen sind, und wie sie in unseren pwa_252.008
Tagen Louise Mühlbach mit wahrhaft erschreckender Schreibseligkeit pwa_252.009
zu liefern pflegt. Solche Romane rücken dicht an das Epos. Denn pwa_252.010
hier sind die Hauptpersonen selbst historisch und ebenso alle Hauptbegebenheiten, pwa_252.011
wie z. B. Alcibiades bei Meissner, Alexander der Grosse pwa_252.012
bei Fessler, Arminius und Thusnelda bei Lohenstein. Aber mit dichterischer pwa_252.013
Freiheit werden sowohl die historischen Nachrichten anders pwa_252.014
gewendet, als Lücken in denselben ergänzt. So wären denn solche pwa_252.015
Romane ihrem Wesen nach durchaus episch, und es ist nur die Schuld pwa_252.016
der Schriftsteller, dass sie ihren Vortheil nicht besser verstanden und pwa_252.017
benutzt haben: aber Lohenstein war dafür zu gelehrt und pedantisch, pwa_252.018
Fessler zu unklar und ungleichmässig in sich selbst, Meissner endlich pwa_252.019
und manche Andere zu flach.

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Mit der Erlaubniss, den Stoff selbst zu erfinden, ist jedoch dem pwa_252.021
Romandichter eine Pflicht auferlegt, die sich unter den Anforderungen pwa_252.022
an die epische Kunst nicht in dem Masse geltend macht: die Pflicht pwa_252.023
einer sorgfältigen Characteristik. Der Epiker, dem mit den Begebenheiten pwa_252.024
und den Namen seiner Personen auch die Charactere derselben pwa_252.025
überliefert sind, und der von der Sage und der Geschichte her bei pwa_252.026
seinen Zuhörern einige Bekanntschaft mit denselben voraussetzen darf, pwa_252.027
ist deswegen auch der Pflicht und der Mühe überhoben, die Charactere pwa_252.028
weitläuftig zu entfalten: seine Sache ist nur, dass er die Personen pwa_252.029
ihrem Character gemäss handeln und reden lasse; und in dieser Beziehung pwa_252.030
genügt dem Epiker oft ein einziges Wort, eine einzige That. pwa_252.031
Anders im Roman. Da hier die Wirklichkeit ganz oder doch zum pwa_252.032
grössten Theile eine erst erfundene zu sein pflegt, so bringt der Leser pwa_252.033
nicht die Erwartung mit, wie die Personen ihrem längst gegebenen pwa_252.034
und bekannten Character gemäss handeln und reden, sondern vielmehr pwa_252.035
die, welchen Character sie überhaupt erst zeigen werden. Der Romanschreiber pwa_252.036
muss also von Anfang bis Ende darauf bedacht sein, seine pwa_252.037
Personen durch Thaten und Reden zu characterisieren: Thaten und pwa_252.038
Reden sind hier nicht, wie im Epos, bloss Ergebnisse des Characters, pwa_252.039
sondern zugleich Mittel der Characteristik. Aber auch wirklich durch pwa_252.040
Thaten und Reden: der gemeinte Character muss sich lebendig und pwa_252.041
wirksam an den Personen selbst erweisen und in ihnen und durch sie.

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haben und immer noch finden, einen erfreulichen Ueberrest des epischen pwa_252.002
Geistes erkennen, der einst alle Völker Europas und vor allen das pwa_252.003
deutsche beseelt hat. Wohl zu unterscheiden von diesen halbhistorischen pwa_252.004
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siebzehnten Jahrhundert durch Daniel Caspar von Lohenstein, später pwa_252.006
wieder, im achtzehnten Jahrhundert, durch August Gottlieb Meissner pwa_252.007
und Ignaz Aurelius Fessler aufgekommen sind, und wie sie in unseren pwa_252.008
Tagen Louise Mühlbach mit wahrhaft erschreckender Schreibseligkeit pwa_252.009
zu liefern pflegt. Solche Romane rücken dicht an das Epos. Denn pwa_252.010
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wie z. B. Alcibiades bei Meissner, Alexander der Grosse pwa_252.012
bei Fessler, Arminius und Thusnelda bei Lohenstein. Aber mit dichterischer pwa_252.013
Freiheit werden sowohl die historischen Nachrichten anders pwa_252.014
gewendet, als Lücken in denselben ergänzt. So wären denn solche pwa_252.015
Romane ihrem Wesen nach durchaus episch, und es ist nur die Schuld pwa_252.016
der Schriftsteller, dass sie ihren Vortheil nicht besser verstanden und pwa_252.017
benutzt haben: aber Lohenstein war dafür zu gelehrt und pedantisch, pwa_252.018
Fessler zu unklar und ungleichmässig in sich selbst, Meissner endlich pwa_252.019
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Mit der Erlaubniss, den Stoff selbst zu erfinden, ist jedoch dem pwa_252.021
Romandichter eine Pflicht auferlegt, die sich unter den Anforderungen pwa_252.022
an die epische Kunst nicht in dem Masse geltend macht: die Pflicht pwa_252.023
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und den Namen seiner Personen auch die Charactere derselben pwa_252.025
überliefert sind, und der von der Sage und der Geschichte her bei pwa_252.026
seinen Zuhörern einige Bekanntschaft mit denselben voraussetzen darf, pwa_252.027
ist deswegen auch der Pflicht und der Mühe überhoben, die Charactere pwa_252.028
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ihrem Character gemäss handeln und reden lasse; und in dieser Beziehung pwa_252.030
genügt dem Epiker oft ein einziges Wort, eine einzige That. pwa_252.031
Anders im Roman. Da hier die Wirklichkeit ganz oder doch zum pwa_252.032
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nicht die Erwartung mit, wie die Personen ihrem längst gegebenen pwa_252.034
und bekannten Character gemäss handeln und reden, sondern vielmehr pwa_252.035
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muss also von Anfang bis Ende darauf bedacht sein, seine pwa_252.037
Personen durch Thaten und Reden zu characterisieren: Thaten und pwa_252.038
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/270>, abgerufen am 25.11.2024.