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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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und ausdrücklich auch den poetischen Vortrag mit in sich befasst, pwa_236.002
dass Rhetorik nun die Kunst der Rede überhaupt bedeutet, im allgemeinen pwa_236.003
Sinne des Wortes, die Kunst sowohl der prosaischen als der pwa_236.004
poetischen Darstellung, nicht bloss der prosaischen des Redners. pwa_236.005
Andere dagegen beschränken sich zwar bei der Rhetorik dem Vorgeben pwa_236.006
nach auf die prosaische Darstellung, theilen dann aber doch alle jene pwa_236.007
stilistischen Regeln gleichfalls mit, als hätten sie ihre Geltung nur pwa_236.008
für die Prosa, nicht auch ebensowohl für die Poesie; und doch haben pwa_236.009
viele, sehr viele dieser Regeln ihre Geltung sogar nur für die Poesie pwa_236.010
und können auf die Prosa niemals angewendet werden. Letztere Art, pwa_236.011
den Begriff und die Bestimmung der Rhetorik aufzufassen, ist die pwa_236.012
gewöhnlich gangbare; man findet sie nicht allein in solchen Lehrbüchern, pwa_236.013
die bloss die Rhetorik, sondern auch in solchen, die beides pwa_236.014
neben einander, Poetik und Rhetorik abhandeln, wo also schon diese pwa_236.015
Zusammenstellung hätte darauf können aufmerksam machen, welch pwa_236.016
ein gedankenloser Missgriff es sei, die allgemeinen Lehren der Stilistik pwa_236.017
unter die einseitige Theorie der Prosa zu mischen. Wie gross die pwa_236.018
Verwirrung sei, die dadurch überall in die letztere gekommen ist, pwa_236.019
davon kann man sich überzeugen, sowie man auch nur das Inhaltsverzeichniss pwa_236.020
irgend einer der gangbaren Rhetoriken überliest, wie da pwa_236.021
solche Rubriken, die zur Theorie der Prosa insbesondere gehören, und pwa_236.022
solche, die allgemein stilistischen Inhaltes sind, in der buntesten pwa_236.023
Unordnung durcheinander laufen.

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Wir nun wollen die Rhetorik in der Weise behandeln, dass wir pwa_236.025
darunter zwar mehr als die blosse Theorie der Beredsamkeit verstehn, pwa_236.026
aber nicht mehr als die Theorie der Prosa. Wie also die Poetik pwa_236.027
die Theorie der Poesie ist, so fassen wir die Rhetorik als die Theorie pwa_236.028
der Prosa. Freilich ist diese Ausdehnung und Festsetzung in der pwa_236.029
Etymologie des Wortes ganz und gar nicht begründet: aber es giebt pwa_236.030
kein anderes, alt überliefertes, welches das Rechte besagte; daher pwa_236.031
schliessen wir uns in diesem einen Stück an das Beispiel und den pwa_236.032
Vorgang der erwähnten neueren Rhetoriken an. Alles aber, was über pwa_236.033
den besonderen Bereich der Prosa hinaus auf dem Gebiete liegt, in pwa_236.034
welchem Poesie und Prosa sich begegnen, auf dem des Stiles, alle pwa_236.035
Regeln der Darstellung, die beiden Darstellungsweisen gemeinsam pwa_236.036
sind, behandeln wir nach Abschluss der Rhetorik unter dem Namen pwa_236.037
der Stilistik.

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und ausdrücklich auch den poetischen Vortrag mit in sich befasst, pwa_236.002
dass Rhetorik nun die Kunst der Rede überhaupt bedeutet, im allgemeinen pwa_236.003
Sinne des Wortes, die Kunst sowohl der prosaischen als der pwa_236.004
poetischen Darstellung, nicht bloss der prosaischen des Redners. pwa_236.005
Andere dagegen beschränken sich zwar bei der Rhetorik dem Vorgeben pwa_236.006
nach auf die prosaische Darstellung, theilen dann aber doch alle jene pwa_236.007
stilistischen Regeln gleichfalls mit, als hätten sie ihre Geltung nur pwa_236.008
für die Prosa, nicht auch ebensowohl für die Poesie; und doch haben pwa_236.009
viele, sehr viele dieser Regeln ihre Geltung sogar nur für die Poesie pwa_236.010
und können auf die Prosa niemals angewendet werden. Letztere Art, pwa_236.011
den Begriff und die Bestimmung der Rhetorik aufzufassen, ist die pwa_236.012
gewöhnlich gangbare; man findet sie nicht allein in solchen Lehrbüchern, pwa_236.013
die bloss die Rhetorik, sondern auch in solchen, die beides pwa_236.014
neben einander, Poetik und Rhetorik abhandeln, wo also schon diese pwa_236.015
Zusammenstellung hätte darauf können aufmerksam machen, welch pwa_236.016
ein gedankenloser Missgriff es sei, die allgemeinen Lehren der Stilistik pwa_236.017
unter die einseitige Theorie der Prosa zu mischen. Wie gross die pwa_236.018
Verwirrung sei, die dadurch überall in die letztere gekommen ist, pwa_236.019
davon kann man sich überzeugen, sowie man auch nur das Inhaltsverzeichniss pwa_236.020
irgend einer der gangbaren Rhetoriken überliest, wie da pwa_236.021
solche Rubriken, die zur Theorie der Prosa insbesondere gehören, und pwa_236.022
solche, die allgemein stilistischen Inhaltes sind, in der buntesten pwa_236.023
Unordnung durcheinander laufen.

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Wir nun wollen die Rhetorik in der Weise behandeln, dass wir pwa_236.025
darunter zwar mehr als die blosse Theorie der Beredsamkeit verstehn, pwa_236.026
aber nicht mehr als die Theorie der Prosa. Wie also die Poetik pwa_236.027
die Theorie der Poesie ist, so fassen wir die Rhetorik als die Theorie pwa_236.028
der Prosa. Freilich ist diese Ausdehnung und Festsetzung in der pwa_236.029
Etymologie des Wortes ganz und gar nicht begründet: aber es giebt pwa_236.030
kein anderes, alt überliefertes, welches das Rechte besagte; daher pwa_236.031
schliessen wir uns in diesem einen Stück an das Beispiel und den pwa_236.032
Vorgang der erwähnten neueren Rhetoriken an. Alles aber, was über pwa_236.033
den besonderen Bereich der Prosa hinaus auf dem Gebiete liegt, in pwa_236.034
welchem Poesie und Prosa sich begegnen, auf dem des Stiles, alle pwa_236.035
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der Stilistik.

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[236/0254] pwa_236.001 und ausdrücklich auch den poetischen Vortrag mit in sich befasst, pwa_236.002 dass Rhetorik nun die Kunst der Rede überhaupt bedeutet, im allgemeinen pwa_236.003 Sinne des Wortes, die Kunst sowohl der prosaischen als der pwa_236.004 poetischen Darstellung, nicht bloss der prosaischen des Redners. pwa_236.005 Andere dagegen beschränken sich zwar bei der Rhetorik dem Vorgeben pwa_236.006 nach auf die prosaische Darstellung, theilen dann aber doch alle jene pwa_236.007 stilistischen Regeln gleichfalls mit, als hätten sie ihre Geltung nur pwa_236.008 für die Prosa, nicht auch ebensowohl für die Poesie; und doch haben pwa_236.009 viele, sehr viele dieser Regeln ihre Geltung sogar nur für die Poesie pwa_236.010 und können auf die Prosa niemals angewendet werden. Letztere Art, pwa_236.011 den Begriff und die Bestimmung der Rhetorik aufzufassen, ist die pwa_236.012 gewöhnlich gangbare; man findet sie nicht allein in solchen Lehrbüchern, pwa_236.013 die bloss die Rhetorik, sondern auch in solchen, die beides pwa_236.014 neben einander, Poetik und Rhetorik abhandeln, wo also schon diese pwa_236.015 Zusammenstellung hätte darauf können aufmerksam machen, welch pwa_236.016 ein gedankenloser Missgriff es sei, die allgemeinen Lehren der Stilistik pwa_236.017 unter die einseitige Theorie der Prosa zu mischen. Wie gross die pwa_236.018 Verwirrung sei, die dadurch überall in die letztere gekommen ist, pwa_236.019 davon kann man sich überzeugen, sowie man auch nur das Inhaltsverzeichniss pwa_236.020 irgend einer der gangbaren Rhetoriken überliest, wie da pwa_236.021 solche Rubriken, die zur Theorie der Prosa insbesondere gehören, und pwa_236.022 solche, die allgemein stilistischen Inhaltes sind, in der buntesten pwa_236.023 Unordnung durcheinander laufen. pwa_236.024 Wir nun wollen die Rhetorik in der Weise behandeln, dass wir pwa_236.025 darunter zwar mehr als die blosse Theorie der Beredsamkeit verstehn, pwa_236.026 aber nicht mehr als die Theorie der Prosa. Wie also die Poetik pwa_236.027 die Theorie der Poesie ist, so fassen wir die Rhetorik als die Theorie pwa_236.028 der Prosa. Freilich ist diese Ausdehnung und Festsetzung in der pwa_236.029 Etymologie des Wortes ganz und gar nicht begründet: aber es giebt pwa_236.030 kein anderes, alt überliefertes, welches das Rechte besagte; daher pwa_236.031 schliessen wir uns in diesem einen Stück an das Beispiel und den pwa_236.032 Vorgang der erwähnten neueren Rhetoriken an. Alles aber, was über pwa_236.033 den besonderen Bereich der Prosa hinaus auf dem Gebiete liegt, in pwa_236.034 welchem Poesie und Prosa sich begegnen, auf dem des Stiles, alle pwa_236.035 Regeln der Darstellung, die beiden Darstellungsweisen gemeinsam pwa_236.036 sind, behandeln wir nach Abschluss der Rhetorik unter dem Namen pwa_236.037 der Stilistik.

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/254>, abgerufen am 13.05.2024.