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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Rhetorik ist schon seit lange ein Wort von sehr unbestimmtem pwa_235.002
und wandelbarem Begriffe, bald von sehr eingeschränktem, bald wieder pwa_235.003
über das Mass ausgedehntem Sinn. Die Alten verstanden demgemäss, pwa_235.004
dass Retor einen Redner und einen Lehrer der Beredsamkeit pwa_235.005
bezeichnet, darunter auch nur die Kunst und Lehre der Beredsamkeit; pwa_235.006
und so fasste sie Aristoteles, der wie der Vater der Poetik, so auch pwa_235.007
der der Rhetorik zu nennen ist. Ganz entsprechend nun dem Zwecke, pwa_235.008
dass die Rhetorik zur vollständigen und erschöpfenden Bildung und pwa_235.009
Unterweisung von Rednern dienen sollte, zogen die Alten ausser dem, pwa_235.010
was den Redner ins Besondere angeht, auch Vieles mit hinein, was pwa_235.011
die Kunst des Redners mit der jedes andern Prosaikers und selbst pwa_235.012
der des Dichters theilt, allerlei Dinge, die überhaupt zu jeglicher pwa_235.013
Darstellung durch das Wort gehören: sie lehrten also in der Rhetorik pwa_235.014
nicht bloss den Bau der "Rede" und die Mittel, die zu den verschiedenen pwa_235.015
Zwecken derselben führen, sondern sie gaben da zugleich auch pwa_235.016
Anweisungen in Bezug auf Richtigkeit und Schönheit des Ausdrucks, pwa_235.017
auf Periodenbau, auf wohllautende Gliederung der Worte, auf Ausschmückung pwa_235.018
durch uneigentliche und bildliche Wendungen, kurz in pwa_235.019
Bezug auf allerlei Dinge, die ihren Ort ebensowohl in einer philosophischen pwa_235.020
Abhandlung, in einer historischen Darstellung und in jedem pwa_235.021
epischen und lyrischen und dramatischen Gedichte haben, als grade pwa_235.022
bloss in der Rede: sie schlossen in die Rhetorik auch die Stilistik pwa_235.023
ein, aber nicht, als ob nur der Redekünstler sie brauche, sondern pwa_235.024
weil er sie auch braucht. Wenn sie es für nöthig befunden hätten, pwa_235.025
einmal eine Historiographik abzufassen, würden sie die Stilistik ebensowohl pwa_235.026
mit hineingezogen haben; und Aristoteles hat auch in seiner pwa_235.027
Poetik wirklich einige stilistische Abschnitte.

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Die neuere Zeit hat sich durch diese Verbindung von Rhetorik pwa_235.029
und Stilistik, die man einmal in den griechischen und lateinischen pwa_235.030
Lehrbüchern vorfand, und die auch in deren Zwecken gar wohl begründet pwa_235.031
war, nach zwei Seiten hin auf Irrwege verleiten lassen. Die pwa_235.032
Einen nehmen deshalb, weil jene stilistischen Gesetze und Regeln ihre pwa_235.033
Anwendung eben auch auf den poetischen Vortrag finden, das Wort pwa_235.034
Rhetorik in einem so weit ausgedehnten Begriffe, dass es wirklich

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Rhetorik ist schon seit lange ein Wort von sehr unbestimmtem pwa_235.002
und wandelbarem Begriffe, bald von sehr eingeschränktem, bald wieder pwa_235.003
über das Mass ausgedehntem Sinn. Die Alten verstanden demgemäss, pwa_235.004
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der der Rhetorik zu nennen ist. Ganz entsprechend nun dem Zwecke, pwa_235.008
dass die Rhetorik zur vollständigen und erschöpfenden Bildung und pwa_235.009
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die Kunst des Redners mit der jedes andern Prosaikers und selbst pwa_235.012
der des Dichters theilt, allerlei Dinge, die überhaupt zu jeglicher pwa_235.013
Darstellung durch das Wort gehören: sie lehrten also in der Rhetorik pwa_235.014
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Zwecken derselben führen, sondern sie gaben da zugleich auch pwa_235.016
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durch uneigentliche und bildliche Wendungen, kurz in pwa_235.019
Bezug auf allerlei Dinge, die ihren Ort ebensowohl in einer philosophischen pwa_235.020
Abhandlung, in einer historischen Darstellung und in jedem pwa_235.021
epischen und lyrischen und dramatischen Gedichte haben, als grade pwa_235.022
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ein, aber nicht, als ob nur der Redekünstler sie brauche, sondern pwa_235.024
weil er sie auch braucht. Wenn sie es für nöthig befunden hätten, pwa_235.025
einmal eine Historiographik abzufassen, würden sie die Stilistik ebensowohl pwa_235.026
mit hineingezogen haben; und Aristoteles hat auch in seiner pwa_235.027
Poetik wirklich einige stilistische Abschnitte.

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Die neuere Zeit hat sich durch diese Verbindung von Rhetorik pwa_235.029
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Lehrbüchern vorfand, und die auch in deren Zwecken gar wohl begründet pwa_235.031
war, nach zwei Seiten hin auf Irrwege verleiten lassen. Die pwa_235.032
Einen nehmen deshalb, weil jene stilistischen Gesetze und Regeln ihre pwa_235.033
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. E235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/253>, abgerufen am 13.05.2024.