pwa_219.001 Kater, im Däumchen. Da thut freilich der Dichter, als wolle er nur pwa_219.002 alte Geschichten dramatisieren: eigentlich aber steht er als Satiriker pwa_219.003 recht mitten drin in den Albernheiten der Gegenwart.
pwa_219.004 Schon aus dem bisher Besprochenen ergiebt es sich überzeugend pwa_219.005 genug, mit welchem Rechte früherhin (S. 205) ist behauptet worden, die pwa_219.006 Tragödie sei um vieles epischer als die Comödie. Denn da das eigentliche pwa_219.007 Gebiet des Epos die Vergangenheit, und sein Sinn immer ein pwa_219.008 ernster ist, so wird auch ein Drama, welches vergangene Wirklichkeit pwa_219.009 mit den Augen der Wehmuth betrachtet, die Tragödie wird näher an pwa_219.010 das Epos grenzen als die Comödie, die mit Laune und Spott in der pwa_219.011 Gegenwart stehn bleibt, aus der Gegenwart ihre Anschauungen und pwa_219.012 die Formen der Anschauung entlehnt und entlehnen muss.
pwa_219.013 Das Unepische der Comödie erweist sich aber auch noch anderweitig. pwa_219.014 Die Tragödie macht, wie sie überhaupt historischer Natur ist, pwa_219.015 auch zu Trägern ihrer Handlung historische Personen: wenigstens die pwa_219.016 hauptsächlichen müssen solche sein; und diese werden dem Character pwa_219.017 gemäss gestaltet, den sie in der Geschichte aufweisen. Die Personen pwa_219.018 der Tragödie sind Individuen. Anders in der Comödie. Sie steht in pwa_219.019 der Gegenwart und schaut in die Gegenwart hinein, in eine noch pwa_219.020 unhistorische Wirklichkeit, aus der sie deshalb auch keine historischen pwa_219.021 Individualitäten holen kann von der Beschaffenheit wie die Individuen pwa_219.022 der Tragödie. Die Comödie zeigt immer und wesentlich ganze Arten. pwa_219.023 Sie bringt also z. B. kein historisch bestimmtes Individuum, mit der pwa_219.024 Eigenschaft des Geizes oder des Zornes oder der Prahlerei behaftet, pwa_219.025 auf die Bühne, sondern nur überhaupt einen Geizhals oder Zornigen pwa_219.026 oder Prahler und giebt diesem erst nach Massgabe der Bedingungen pwa_219.027 der Gegenwart eine Persönlichkeit. Die Tragödie gestaltet ein historisch pwa_219.028 gegebenes Individuum gemäss seinem gleichfalls schon historisch pwa_219.029 gegebenen Character: die Comödie wählt frei einen Character und pwa_219.030 individualisiert ihn in den Formen der gegenwärtigen Wirklichkeit.
pwa_219.031 Dem könnte nun zu widersprechen scheinen, dass die Comödie pwa_219.032 oft genug historische, zwar der Gegenwart angehörige, aber doch pwa_219.033 historische, nämlich wirkliche Personen, eigentliche Individuen zu Trägern pwa_219.034 ihrer Handlung gemacht habe, wie z. B. Socrates auftrete in den pwa_219.035 Wolken des Aristophanes. Aber der Widerspruch erledigt sich hier pwa_219.036 wie überall in dergleichen Fällen auf die leichteste Weise. Aristophanes pwa_219.037 hatte es da eigentlich gar nicht auf Socrates als historisches pwa_219.038 Individuum abgesehen, sondern nur auf die Neigung seiner Zeit zu pwa_219.039 unpractischem Philosophieren, auf die ganze Art, auf den Stand und pwa_219.040 Character der Philosophen, mochten das nun Sophisten sein oder, wie pwa_219.041 Socrates, deren Gegner. Und diese ganze Art unpractisch grübelnder
pwa_219.001 Kater, im Däumchen. Da thut freilich der Dichter, als wolle er nur pwa_219.002 alte Geschichten dramatisieren: eigentlich aber steht er als Satiriker pwa_219.003 recht mitten drin in den Albernheiten der Gegenwart.
pwa_219.004 Schon aus dem bisher Besprochenen ergiebt es sich überzeugend pwa_219.005 genug, mit welchem Rechte früherhin (S. 205) ist behauptet worden, die pwa_219.006 Tragödie sei um vieles epischer als die Comödie. Denn da das eigentliche pwa_219.007 Gebiet des Epos die Vergangenheit, und sein Sinn immer ein pwa_219.008 ernster ist, so wird auch ein Drama, welches vergangene Wirklichkeit pwa_219.009 mit den Augen der Wehmuth betrachtet, die Tragödie wird näher an pwa_219.010 das Epos grenzen als die Comödie, die mit Laune und Spott in der pwa_219.011 Gegenwart stehn bleibt, aus der Gegenwart ihre Anschauungen und pwa_219.012 die Formen der Anschauung entlehnt und entlehnen muss.
pwa_219.013 Das Unepische der Comödie erweist sich aber auch noch anderweitig. pwa_219.014 Die Tragödie macht, wie sie überhaupt historischer Natur ist, pwa_219.015 auch zu Trägern ihrer Handlung historische Personen: wenigstens die pwa_219.016 hauptsächlichen müssen solche sein; und diese werden dem Character pwa_219.017 gemäss gestaltet, den sie in der Geschichte aufweisen. Die Personen pwa_219.018 der Tragödie sind Individuen. Anders in der Comödie. Sie steht in pwa_219.019 der Gegenwart und schaut in die Gegenwart hinein, in eine noch pwa_219.020 unhistorische Wirklichkeit, aus der sie deshalb auch keine historischen pwa_219.021 Individualitäten holen kann von der Beschaffenheit wie die Individuen pwa_219.022 der Tragödie. Die Comödie zeigt immer und wesentlich ganze Arten. pwa_219.023 Sie bringt also z. B. kein historisch bestimmtes Individuum, mit der pwa_219.024 Eigenschaft des Geizes oder des Zornes oder der Prahlerei behaftet, pwa_219.025 auf die Bühne, sondern nur überhaupt einen Geizhals oder Zornigen pwa_219.026 oder Prahler und giebt diesem erst nach Massgabe der Bedingungen pwa_219.027 der Gegenwart eine Persönlichkeit. Die Tragödie gestaltet ein historisch pwa_219.028 gegebenes Individuum gemäss seinem gleichfalls schon historisch pwa_219.029 gegebenen Character: die Comödie wählt frei einen Character und pwa_219.030 individualisiert ihn in den Formen der gegenwärtigen Wirklichkeit.
pwa_219.031 Dem könnte nun zu widersprechen scheinen, dass die Comödie pwa_219.032 oft genug historische, zwar der Gegenwart angehörige, aber doch pwa_219.033 historische, nämlich wirkliche Personen, eigentliche Individuen zu Trägern pwa_219.034 ihrer Handlung gemacht habe, wie z. B. Socrates auftrete in den pwa_219.035 Wolken des Aristophanes. Aber der Widerspruch erledigt sich hier pwa_219.036 wie überall in dergleichen Fällen auf die leichteste Weise. Aristophanes pwa_219.037 hatte es da eigentlich gar nicht auf Socrates als historisches pwa_219.038 Individuum abgesehen, sondern nur auf die Neigung seiner Zeit zu pwa_219.039 unpractischem Philosophieren, auf die ganze Art, auf den Stand und pwa_219.040 Character der Philosophen, mochten das nun Sophisten sein oder, wie pwa_219.041 Socrates, deren Gegner. Und diese ganze Art unpractisch grübelnder
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Kater, im Däumchen. Da thut freilich der Dichter, als wolle er nur pwa_219.002
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recht mitten drin in den Albernheiten der Gegenwart.
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Schon aus dem bisher Besprochenen ergiebt es sich überzeugend pwa_219.005
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Tragödie sei um vieles epischer als die Comödie. Denn da das eigentliche pwa_219.007
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Socrates, deren Gegner. Und diese ganze Art unpractisch grübelnder
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/237>, abgerufen am 05.05.2024.
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