Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_199.001 pwa_199.035 pwa_199.001 pwa_199.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0217" n="199"/> <p><lb n="pwa_199.001"/> Und dabei ist eins wohl zu beachten, was den Verfechtern der <lb n="pwa_199.002"/> Prosa hätte ein warnender und zurechtweisender Fingerzeig sein können: <lb n="pwa_199.003"/> dass nämlich das Drama für den Dialog immer eine Versform <lb n="pwa_199.004"/> erwählt, die nicht zu weit abliegt von der unrhythmischen, von der <lb n="pwa_199.005"/> prosaischen Form. Das griechische Drama mit seinem Chor konnte <lb n="pwa_199.006"/> freilich neben dessen kühn und kunstreich gebauten lyrischen Strophen <lb n="pwa_199.007"/> den Zwischenrednern keine Prosa in den Mund legen; es konnte nicht, <lb n="pwa_199.008"/> während es die grosse Unnatürlichkeit, die überhaupt ein Chor hat, <lb n="pwa_199.009"/> duldete, dem gegenüber im Dialog auf die gemeinste Natürlichkeit <lb n="pwa_199.010"/> ausgehn: gleichwohl durfte es sich hier der Natürlichkeit so viel <lb n="pwa_199.011"/> annähern, als die waltenden Principien der Poesie nur zuliessen; es <lb n="pwa_199.012"/> musste die historische Wirklichkeit, auf welcher der dialogische Theil <lb n="pwa_199.013"/> vorzüglich beruht, auch auf dessen metrische Form einfliessen lassen, <lb n="pwa_199.014"/> damit er sich auch darin scharf von dem rein lyrischen Element, den <lb n="pwa_199.015"/> Chorgesängen, unterschiede; man brachte also den Dialog zwar auch <lb n="pwa_199.016"/> in Verse, weil man eben dichtete: aber diese Verse lagen hart an <lb n="pwa_199.017"/> der Grenze der unkünstlerischen, natürlichen Wirklichkeit. Das Hauptmetrum <lb n="pwa_199.018"/> des dramatischen Dialogs bei den Griechen und Römern ist <lb n="pwa_199.019"/> bekanntlich der iambische Trimeter: denn er nähert sich am allermeisten <lb n="pwa_199.020"/> der gemeinen Sprechart (<foreign xml:lang="grc">μάλιστα γὰρ λεκτικὸν τῶν μέτρων τὸ</foreign> <lb n="pwa_199.021"/> <foreign xml:lang="grc">ἰαμβεῖόν ἐστιν</foreign>. Arist. Poet. 4). Daneben galten noch andre, namentlich <lb n="pwa_199.022"/> der trochäische Tetrameter, der bei Aristoteles und sonst als ein <lb n="pwa_199.023"/> dithyrambischer, mehr für den begleitenden Tanz geeigneter Vers <lb n="pwa_199.024"/> bezeichnet wird: dass er allerdings vom Dithyrambus ererbt und erst <lb n="pwa_199.025"/> nach und nach von den mehr dialogischen Iamben in den Hintergrund <lb n="pwa_199.026"/> sei geschoben worden, sieht man deutlich daran, wie er bei Aeschylus, <lb n="pwa_199.027"/> wo die Tragödie ihrem dithyrambischen Ursprunge noch näher liegt, <lb n="pwa_199.028"/> auch noch eine viel weiter ausgedehnte Anwendung findet als bei <lb n="pwa_199.029"/> Sophocles und Euripides. Auch die Comödie bedient sich des trochäischen <lb n="pwa_199.030"/> Tetrameters häufiger als die Tragödie. Eine dritte Versart <lb n="pwa_199.031"/> der Griechen ist der Comödie um vieles geläufiger als der Tragödie, <lb n="pwa_199.032"/> wie sie denn auch zu der beweglichen Natur der erstern, zu dem <lb n="pwa_199.033"/> Muthwillen ihrer Laune und ihres Spottes besser passt als zu dem <lb n="pwa_199.034"/> gemessenen Ernste der Tragödie: der anapästische Vers.</p> <p><lb n="pwa_199.035"/> Das deutsche Drama, ich meine das auf deutschem Grund und <lb n="pwa_199.036"/> Boden in mehr selbständiger Weise erwachsene, schloss sich, da es <lb n="pwa_199.037"/> zuerst entstand, in seiner metrischen Form eng an die Lyrik an; so <lb n="pwa_199.038"/> ist das älteste deutsche Drama, der Wartburgkrieg, in sangbaren <lb n="pwa_199.039"/> Strophen abgefasst; weiterhin aber griff auch diess, in ähnlicher <lb n="pwa_199.040"/> Weise, wie das griechische den anspruchsloseren iambischen Trimeter <lb n="pwa_199.041"/> gebrauchte, zu einer einfachern Form des Dialogs, der vom Epos </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [199/0217]
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Und dabei ist eins wohl zu beachten, was den Verfechtern der pwa_199.002
Prosa hätte ein warnender und zurechtweisender Fingerzeig sein können: pwa_199.003
dass nämlich das Drama für den Dialog immer eine Versform pwa_199.004
erwählt, die nicht zu weit abliegt von der unrhythmischen, von der pwa_199.005
prosaischen Form. Das griechische Drama mit seinem Chor konnte pwa_199.006
freilich neben dessen kühn und kunstreich gebauten lyrischen Strophen pwa_199.007
den Zwischenrednern keine Prosa in den Mund legen; es konnte nicht, pwa_199.008
während es die grosse Unnatürlichkeit, die überhaupt ein Chor hat, pwa_199.009
duldete, dem gegenüber im Dialog auf die gemeinste Natürlichkeit pwa_199.010
ausgehn: gleichwohl durfte es sich hier der Natürlichkeit so viel pwa_199.011
annähern, als die waltenden Principien der Poesie nur zuliessen; es pwa_199.012
musste die historische Wirklichkeit, auf welcher der dialogische Theil pwa_199.013
vorzüglich beruht, auch auf dessen metrische Form einfliessen lassen, pwa_199.014
damit er sich auch darin scharf von dem rein lyrischen Element, den pwa_199.015
Chorgesängen, unterschiede; man brachte also den Dialog zwar auch pwa_199.016
in Verse, weil man eben dichtete: aber diese Verse lagen hart an pwa_199.017
der Grenze der unkünstlerischen, natürlichen Wirklichkeit. Das Hauptmetrum pwa_199.018
des dramatischen Dialogs bei den Griechen und Römern ist pwa_199.019
bekanntlich der iambische Trimeter: denn er nähert sich am allermeisten pwa_199.020
der gemeinen Sprechart (μάλιστα γὰρ λεκτικὸν τῶν μέτρων τὸ pwa_199.021
ἰαμβεῖόν ἐστιν. Arist. Poet. 4). Daneben galten noch andre, namentlich pwa_199.022
der trochäische Tetrameter, der bei Aristoteles und sonst als ein pwa_199.023
dithyrambischer, mehr für den begleitenden Tanz geeigneter Vers pwa_199.024
bezeichnet wird: dass er allerdings vom Dithyrambus ererbt und erst pwa_199.025
nach und nach von den mehr dialogischen Iamben in den Hintergrund pwa_199.026
sei geschoben worden, sieht man deutlich daran, wie er bei Aeschylus, pwa_199.027
wo die Tragödie ihrem dithyrambischen Ursprunge noch näher liegt, pwa_199.028
auch noch eine viel weiter ausgedehnte Anwendung findet als bei pwa_199.029
Sophocles und Euripides. Auch die Comödie bedient sich des trochäischen pwa_199.030
Tetrameters häufiger als die Tragödie. Eine dritte Versart pwa_199.031
der Griechen ist der Comödie um vieles geläufiger als der Tragödie, pwa_199.032
wie sie denn auch zu der beweglichen Natur der erstern, zu dem pwa_199.033
Muthwillen ihrer Laune und ihres Spottes besser passt als zu dem pwa_199.034
gemessenen Ernste der Tragödie: der anapästische Vers.
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Das deutsche Drama, ich meine das auf deutschem Grund und pwa_199.036
Boden in mehr selbständiger Weise erwachsene, schloss sich, da es pwa_199.037
zuerst entstand, in seiner metrischen Form eng an die Lyrik an; so pwa_199.038
ist das älteste deutsche Drama, der Wartburgkrieg, in sangbaren pwa_199.039
Strophen abgefasst; weiterhin aber griff auch diess, in ähnlicher pwa_199.040
Weise, wie das griechische den anspruchsloseren iambischen Trimeter pwa_199.041
gebrauchte, zu einer einfachern Form des Dialogs, der vom Epos
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