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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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im Grunde nur ein Nachlass der Theorien, die sie selber bekämpften. pwa_198.002
Dass die französischen Tragiker auf der Einheit der Zeit und des pwa_198.003
Ortes bestanden, damit huldigten sie nur der sogenannten Natürlichkeit: pwa_198.004
dass sie ihre Tragödien dennoch in Versen abfassten, damit pwa_198.005
meinten sie daneben auch der Kunst ihre Genüge zu entrichten. pwa_198.006
Indem nun Diderot und Lessing jene Einheiten bekämpften, bekämpften pwa_198.007
sie nicht sowohl das Unkünstlerische derselben, als vielmehr nur pwa_198.008
die Unnatürlichkeiten, zu denen die beabsichtigte Natürlichkeit doch pwa_198.009
beständig führen musste; und derselbe Standpunct war es denn auch, pwa_198.010
von welchem aus sie die metrische Form des Dramas angriffen: sie pwa_198.011
fanden es eben unnatürlich, dass man auf der Bühne, weil sie ein pwa_198.012
Paar Fuss höher ist als das Publicum, eine andere Sprache reden pwa_198.013
sollte, als um einige Fuss tiefer; sie fanden es dem Zweck der Illusion pwa_198.014
nicht dienlich, wenn die ganze natürliche Wahrscheinlichkeit der Handlung pwa_198.015
wieder scheitere und zu Grunde gehe an der grossen Unwahrscheinlichkeit pwa_198.016
eines rhythmisch gegliederten Dialogs. Und so hat pwa_198.017
denn Lessing erst sein spätestes Drama, den Nathan, in Versen abgefasst, pwa_198.018
und auch dieses nur mit Widerstreben, nur als Verwahrung und pwa_198.019
Abwehr gegen den Geist der litterarischen Formlosigkeit, den er selbst pwa_198.020
durch seine frühere Lehre heraufbeschworen; vorher dagegen Alles in pwa_198.021
Prosa; und diesem Beispiel ist eine Unzahl von späteren Dichtern pwa_198.022
gefolgt, theils verleitet von dem gleichen Principe der Natürlichkeit, pwa_198.023
theils, und das noch öfter, aus künstlerischem Unvermögen, oder wie pwa_198.024
Kotzebue aus Liebedienerei gegen ein entartetes Publicum.

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Es scheint unnöthig, die Schiefheit dieser Ansicht zu beleuchten, pwa_198.026
da, wie wir früher gesehen (S. 33 fg.), die Nothwendigkeit der metrischen pwa_198.027
Form aus dem Wesen und den Zwecken der Poesie zur Genüge erhellt: pwa_198.028
nur das sei bemerkt, dass die prosaische Form noch nicht viel zur pwa_198.029
täuschenden Natürlichkeit hilft, wenn sie nicht mit den Einheiten der pwa_198.030
Zeit und des Ortes verbunden ist, und dass auch dann immer noch pwa_198.031
die grösste Unnatürlichkeit bleibt, nämlich unsere Sprache und die pwa_198.032
Sprache unserer Zeit im Munde längst verstorbener Personen und im pwa_198.033
Munde von Personen, die niemals deutsch gesprochen haben, wie z. B. pwa_198.034
die Engländer und Italiäner in Lessings Trauerspielen. Lessing und pwa_198.035
seine Nachfolger sind also der Scylla nur entflohen, um dann doch pwa_198.036
nicht der Charybdis zu entgehn. Wo das Drama frei und selbständig pwa_198.037
aus dem Kunsttriebe des Volkes hervorgewachsen ist, und solange pwa_198.038
es von demselben allein ist getragen worden ohne Zuthun und Dreinreden pwa_198.039
der Theoretiker, da hat es auch niemals eine andre Form pwa_198.040
seiner Rede gekannt als die metrische. So bei den Griechen, so pwa_198.041
überall im Mittelalter.

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im Grunde nur ein Nachlass der Theorien, die sie selber bekämpften. pwa_198.002
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Paar Fuss höher ist als das Publicum, eine andere Sprache reden pwa_198.013
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Abwehr gegen den Geist der litterarischen Formlosigkeit, den er selbst pwa_198.020
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Prosa; und diesem Beispiel ist eine Unzahl von späteren Dichtern pwa_198.022
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Kotzebue aus Liebedienerei gegen ein entartetes Publicum.

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Es scheint unnöthig, die Schiefheit dieser Ansicht zu beleuchten, pwa_198.026
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Form aus dem Wesen und den Zwecken der Poesie zur Genüge erhellt: pwa_198.028
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/216>, abgerufen am 22.11.2024.