pwa_197.001 konnte da gar nicht die Rede sein: sie brauchten sich nur pwa_197.002 hinzusetzen und Alles in behaglicher Musse an sich vorübergehn zu pwa_197.003 lassen.
pwa_197.004 Noch ein hiemit verbundenes und ein recht äusserliches und das pwa_197.005 allersinnlichste Mittel zu dem grossen Zwecke der Illusion besitzt das pwa_197.006 neuere Theater in der Scenerie, in den Decorationen. Damit sich der pwa_197.007 Zuschauer nur gar nichts einzubilden brauche, wird ihm die ganze pwa_197.008 Räumlichkeit, auf die es ankommt, in so genauer und so täuschender pwa_197.009 Malerei als möglich vor Augen gestellt: und es darf da z. B. Schillers pwa_197.010 Wilhelm Tell nicht mehr aufgeführt werden, ohne dass der Vierwaldstätter pwa_197.011 See mit allen Bergen umher auf das naturgetreueste abconterfeit pwa_197.012 zu sehen sei. Ob aber der wahren Kunst, ob der Poesie mit pwa_197.013 solchen Aeusserlichkeiten und Kleinlichkeiten gedient sei, und ob man pwa_197.014 das Publicum zum wahren künstlerischen Interesse erziehe, wenn man pwa_197.015 so seine Theilnahme auf Nebendinge ablenkt und ihm auch Alles Alles pwa_197.016 in die Hände giebt, was es eigentlich schon mitbringen sollte: das pwa_197.017 ist eine Frage, die sich von selbst beantwortet. Das neuere Theater pwa_197.018 geht von Jahr zu Jahr mehr darüber zu Grunde: das alte englische, pwa_197.019 das griechische haben zwischen einer dürftigen Scenerie eine lang pwa_197.020 anhaltende Kunstblüte gefeiert. Die Scenerie des griechischen Theaters pwa_197.021 war von einer so symbolischen Allgemeinheit, dass eine und dieselbe pwa_197.022 Decoration gar wohl für die verschiedenartigsten Dramen passte; pwa_197.023 Shakspeare hatte nicht viel mehr als eine graue und eine grüne pwa_197.024 Decke, eine graue, damit sich der Zuschauer Gebäulichkeiten, eine pwa_197.025 grüne, damit er sich Wald und freie Natur vorstelle. Wahrscheinlich pwa_197.026 sind aber die grössten Dramen, die wir bis jetzt besitzen, vor diesen pwa_197.027 grauen und grünen Decken des englischen und vor der dreithürigen pwa_197.028 Hinterwand des griechischen Theaters aufgeführt worden.
pwa_197.029 Die verkehrten Ansichten von der Illusion, von der Nothwendigkeit pwa_197.030 einer Täuschung durch die volle natürliche Wirklichkeit haben pwa_197.031 ihren Einfluss aber noch weiter ausgedehnt; es ist an den bisher pwa_197.032 besprochenen übeln und verderblichen Wirkungen noch nicht genug pwa_197.033 gewesen: auch das äussere Merkmal aller poetischen Productionen, pwa_197.034 die metrische Form der Rede, hat vor ihnen weichen müssen. Es pwa_197.035 sind zwar nicht die Verkündiger jener zwei unnützen Einheiten der pwa_197.036 Zeit und des Ortes gewesen, sondern grade die, welche zuerst als pwa_197.037 deren Gegner aufgetreten, es sind bei den Franzosen Diderot, bei den pwa_197.038 Deutschen Lessing gewesen, welche durch Lehre und Beispiel die prosaische pwa_197.039 Form empfahlen: beide nach dem Muster neuerer englischer pwa_197.040 Dramen, Lessing ausserdem nach dem Vorgange der Dramatiker schon pwa_197.041 des siebzehnten Jahrhunderts in England. Gleichwohl ist diese Ansicht
pwa_197.001 konnte da gar nicht die Rede sein: sie brauchten sich nur pwa_197.002 hinzusetzen und Alles in behaglicher Musse an sich vorübergehn zu pwa_197.003 lassen.
pwa_197.004 Noch ein hiemit verbundenes und ein recht äusserliches und das pwa_197.005 allersinnlichste Mittel zu dem grossen Zwecke der Illusion besitzt das pwa_197.006 neuere Theater in der Scenerie, in den Decorationen. Damit sich der pwa_197.007 Zuschauer nur gar nichts einzubilden brauche, wird ihm die ganze pwa_197.008 Räumlichkeit, auf die es ankommt, in so genauer und so täuschender pwa_197.009 Malerei als möglich vor Augen gestellt: und es darf da z. B. Schillers pwa_197.010 Wilhelm Tell nicht mehr aufgeführt werden, ohne dass der Vierwaldstätter pwa_197.011 See mit allen Bergen umher auf das naturgetreueste abconterfeit pwa_197.012 zu sehen sei. Ob aber der wahren Kunst, ob der Poesie mit pwa_197.013 solchen Aeusserlichkeiten und Kleinlichkeiten gedient sei, und ob man pwa_197.014 das Publicum zum wahren künstlerischen Interesse erziehe, wenn man pwa_197.015 so seine Theilnahme auf Nebendinge ablenkt und ihm auch Alles Alles pwa_197.016 in die Hände giebt, was es eigentlich schon mitbringen sollte: das pwa_197.017 ist eine Frage, die sich von selbst beantwortet. Das neuere Theater pwa_197.018 geht von Jahr zu Jahr mehr darüber zu Grunde: das alte englische, pwa_197.019 das griechische haben zwischen einer dürftigen Scenerie eine lang pwa_197.020 anhaltende Kunstblüte gefeiert. Die Scenerie des griechischen Theaters pwa_197.021 war von einer so symbolischen Allgemeinheit, dass eine und dieselbe pwa_197.022 Decoration gar wohl für die verschiedenartigsten Dramen passte; pwa_197.023 Shakspeare hatte nicht viel mehr als eine graue und eine grüne pwa_197.024 Decke, eine graue, damit sich der Zuschauer Gebäulichkeiten, eine pwa_197.025 grüne, damit er sich Wald und freie Natur vorstelle. Wahrscheinlich pwa_197.026 sind aber die grössten Dramen, die wir bis jetzt besitzen, vor diesen pwa_197.027 grauen und grünen Decken des englischen und vor der dreithürigen pwa_197.028 Hinterwand des griechischen Theaters aufgeführt worden.
pwa_197.029 Die verkehrten Ansichten von der Illusion, von der Nothwendigkeit pwa_197.030 einer Täuschung durch die volle natürliche Wirklichkeit haben pwa_197.031 ihren Einfluss aber noch weiter ausgedehnt; es ist an den bisher pwa_197.032 besprochenen übeln und verderblichen Wirkungen noch nicht genug pwa_197.033 gewesen: auch das äussere Merkmal aller poetischen Productionen, pwa_197.034 die metrische Form der Rede, hat vor ihnen weichen müssen. Es pwa_197.035 sind zwar nicht die Verkündiger jener zwei unnützen Einheiten der pwa_197.036 Zeit und des Ortes gewesen, sondern grade die, welche zuerst als pwa_197.037 deren Gegner aufgetreten, es sind bei den Franzosen Diderot, bei den pwa_197.038 Deutschen Lessing gewesen, welche durch Lehre und Beispiel die prosaische pwa_197.039 Form empfahlen: beide nach dem Muster neuerer englischer pwa_197.040 Dramen, Lessing ausserdem nach dem Vorgange der Dramatiker schon pwa_197.041 des siebzehnten Jahrhunderts in England. Gleichwohl ist diese Ansicht
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/215>, abgerufen am 22.11.2024.
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