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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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an die didactische Epik, theils an die epische Lyrik eng genug an, pwa_158.002
so eng, dass man nicht selten wird in Zweifel gerathen dürfen, ob pwa_158.003
man einem Gedichte nicht lieber hier oder dort seinen Platz geben pwa_158.004
solle. Schillers Künstler z. B. können ebensowohl zur didactischen pwa_158.005
Lyrik als zur epischen Lyrik oder zur didactischen Epik gerechnet pwa_158.006
werden (LB. 2, 1119).

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Wollen wir nun die einzelnen Arten solcher ganz didactischen pwa_158.008
Lyrik näher betrachten, so ist gleich zuerst die Satire des Archilochus pwa_158.009
zu erwähnen. Die Horazische Satire haben wir früherhin (S. 106) als pwa_158.010
didactische Epik behandeln müssen: denn allerdings ist auch ihr Character pwa_158.011
eine fortlaufende didactische Betrachtung der gegebenen Wirklichkeit, pwa_158.012
und ihre epische Natur spiegelt sich auch ab in der epischen Form pwa_158.013
des Hexameters, die ihr eigen ist. Die Satire des Archilochus dagegen pwa_158.014
war wesentlich lyrisch, soweit wir sie beurtheilen können aus den pwa_158.015
wenigen Ueberresten, die sich erhalten haben, und aus den Epoden pwa_158.016
des Horaz, deren Mehrzahl deutlich dem Archilochus nachgebildet ist: pwa_158.017
sie schloss sich freilich auch an ein episches Motiv an: aber das pwa_158.018
Epische war eben nur ein anstossendes Motiv, nicht wie in der Horazischen pwa_158.019
Satire die fortdauernde Grundlage; der weitere Verlauf der pwa_158.020
Dichtung war eigentlich lyrisch, war die leidenschaftlichste Entwickelung pwa_158.021
individueller Stimmungen, der Ausdruck des Zorns, der Rache, pwa_158.022
des Hasses. Diese Mischung von Didactik und Lyrik zeigt sich auch pwa_158.023
in dem Versmasse ausgeprägt, welches dem Archilochus eigenthümlich pwa_158.024
ist: es besteht in einer zweizeiligen Strophe, die auf den halbprosaischen, pwa_158.025
recht didactischen iambischen Trimeter, als dessen Erfinder pwa_158.026
Archilochus bezeichnet wird, den lyrisch bewegten Archilochischen pwa_158.027
Vers, d. h. einen halben Pentameter, folgen lässt.

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Näher als die Archilochische Satire liegt der Satire des Horaz pwa_158.029
eine andre didactisch-lyrische Dichtungsart, die Epistel. Die nahe pwa_158.030
Verwandtschaft zeigt sich schon in der gemeinsamen Form: Horaz hat pwa_158.031
seine Episteln wie die Satiren in Hexametern verfasst. Neuere deutsche pwa_158.032
Episteldichter wie Boie, Gotter, Göckingk bedienen sich zwar grade pwa_158.033
keines epischen Masses, aus dem einfachen Grunde, weil wir kein pwa_158.034
nationales episches Mass mehr besitzen, aber sie gebrauchen doch pwa_158.035
wenigstens auch keine lyrischen Strophen: sie verfassen ihre Episteln pwa_158.036
in langen unstrophischen Reihen reimender Zeilen. Die Horazische pwa_158.037
Epistel hat mit der Horazischen Satire gemein die fortdauernde oder pwa_158.038
doch immer wiederkehrende Anlehnung an die gegebene Wirklichkeit pwa_158.039
und den Gebrauch episodischer Abschweifungen; sodann auch, dass pwa_158.040
Spott und Laune, die zur Satire überall und wesentlich gehören, ihr pwa_158.041
wenigstens nicht fremd sind: in so fern wäre die Epistel auch didactische

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an die didactische Epik, theils an die epische Lyrik eng genug an, pwa_158.002
so eng, dass man nicht selten wird in Zweifel gerathen dürfen, ob pwa_158.003
man einem Gedichte nicht lieber hier oder dort seinen Platz geben pwa_158.004
solle. Schillers Künstler z. B. können ebensowohl zur didactischen pwa_158.005
Lyrik als zur epischen Lyrik oder zur didactischen Epik gerechnet pwa_158.006
werden (LB. 2, 1119).

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Wollen wir nun die einzelnen Arten solcher ganz didactischen pwa_158.008
Lyrik näher betrachten, so ist gleich zuerst die Satire des Archilochus pwa_158.009
zu erwähnen. Die Horazische Satire haben wir früherhin (S. 106) als pwa_158.010
didactische Epik behandeln müssen: denn allerdings ist auch ihr Character pwa_158.011
eine fortlaufende didactische Betrachtung der gegebenen Wirklichkeit, pwa_158.012
und ihre epische Natur spiegelt sich auch ab in der epischen Form pwa_158.013
des Hexameters, die ihr eigen ist. Die Satire des Archilochus dagegen pwa_158.014
war wesentlich lyrisch, soweit wir sie beurtheilen können aus den pwa_158.015
wenigen Ueberresten, die sich erhalten haben, und aus den Epoden pwa_158.016
des Horaz, deren Mehrzahl deutlich dem Archilochus nachgebildet ist: pwa_158.017
sie schloss sich freilich auch an ein episches Motiv an: aber das pwa_158.018
Epische war eben nur ein anstossendes Motiv, nicht wie in der Horazischen pwa_158.019
Satire die fortdauernde Grundlage; der weitere Verlauf der pwa_158.020
Dichtung war eigentlich lyrisch, war die leidenschaftlichste Entwickelung pwa_158.021
individueller Stimmungen, der Ausdruck des Zorns, der Rache, pwa_158.022
des Hasses. Diese Mischung von Didactik und Lyrik zeigt sich auch pwa_158.023
in dem Versmasse ausgeprägt, welches dem Archilochus eigenthümlich pwa_158.024
ist: es besteht in einer zweizeiligen Strophe, die auf den halbprosaischen, pwa_158.025
recht didactischen iambischen Trimeter, als dessen Erfinder pwa_158.026
Archilochus bezeichnet wird, den lyrisch bewegten Archilochischen pwa_158.027
Vers, d. h. einen halben Pentameter, folgen lässt.

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Näher als die Archilochische Satire liegt der Satire des Horaz pwa_158.029
eine andre didactisch-lyrische Dichtungsart, die Epistel. Die nahe pwa_158.030
Verwandtschaft zeigt sich schon in der gemeinsamen Form: Horaz hat pwa_158.031
seine Episteln wie die Satiren in Hexametern verfasst. Neuere deutsche pwa_158.032
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Epistel hat mit der Horazischen Satire gemein die fortdauernde oder pwa_158.038
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[158/0176] pwa_158.001 an die didactische Epik, theils an die epische Lyrik eng genug an, pwa_158.002 so eng, dass man nicht selten wird in Zweifel gerathen dürfen, ob pwa_158.003 man einem Gedichte nicht lieber hier oder dort seinen Platz geben pwa_158.004 solle. Schillers Künstler z. B. können ebensowohl zur didactischen pwa_158.005 Lyrik als zur epischen Lyrik oder zur didactischen Epik gerechnet pwa_158.006 werden (LB. 2, 1119). pwa_158.007 Wollen wir nun die einzelnen Arten solcher ganz didactischen pwa_158.008 Lyrik näher betrachten, so ist gleich zuerst die Satire des Archilochus pwa_158.009 zu erwähnen. Die Horazische Satire haben wir früherhin (S. 106) als pwa_158.010 didactische Epik behandeln müssen: denn allerdings ist auch ihr Character pwa_158.011 eine fortlaufende didactische Betrachtung der gegebenen Wirklichkeit, pwa_158.012 und ihre epische Natur spiegelt sich auch ab in der epischen Form pwa_158.013 des Hexameters, die ihr eigen ist. Die Satire des Archilochus dagegen pwa_158.014 war wesentlich lyrisch, soweit wir sie beurtheilen können aus den pwa_158.015 wenigen Ueberresten, die sich erhalten haben, und aus den Epoden pwa_158.016 des Horaz, deren Mehrzahl deutlich dem Archilochus nachgebildet ist: pwa_158.017 sie schloss sich freilich auch an ein episches Motiv an: aber das pwa_158.018 Epische war eben nur ein anstossendes Motiv, nicht wie in der Horazischen pwa_158.019 Satire die fortdauernde Grundlage; der weitere Verlauf der pwa_158.020 Dichtung war eigentlich lyrisch, war die leidenschaftlichste Entwickelung pwa_158.021 individueller Stimmungen, der Ausdruck des Zorns, der Rache, pwa_158.022 des Hasses. Diese Mischung von Didactik und Lyrik zeigt sich auch pwa_158.023 in dem Versmasse ausgeprägt, welches dem Archilochus eigenthümlich pwa_158.024 ist: es besteht in einer zweizeiligen Strophe, die auf den halbprosaischen, pwa_158.025 recht didactischen iambischen Trimeter, als dessen Erfinder pwa_158.026 Archilochus bezeichnet wird, den lyrisch bewegten Archilochischen pwa_158.027 Vers, d. h. einen halben Pentameter, folgen lässt. pwa_158.028 Näher als die Archilochische Satire liegt der Satire des Horaz pwa_158.029 eine andre didactisch-lyrische Dichtungsart, die Epistel. Die nahe pwa_158.030 Verwandtschaft zeigt sich schon in der gemeinsamen Form: Horaz hat pwa_158.031 seine Episteln wie die Satiren in Hexametern verfasst. Neuere deutsche pwa_158.032 Episteldichter wie Boie, Gotter, Göckingk bedienen sich zwar grade pwa_158.033 keines epischen Masses, aus dem einfachen Grunde, weil wir kein pwa_158.034 nationales episches Mass mehr besitzen, aber sie gebrauchen doch pwa_158.035 wenigstens auch keine lyrischen Strophen: sie verfassen ihre Episteln pwa_158.036 in langen unstrophischen Reihen reimender Zeilen. Die Horazische pwa_158.037 Epistel hat mit der Horazischen Satire gemein die fortdauernde oder pwa_158.038 doch immer wiederkehrende Anlehnung an die gegebene Wirklichkeit pwa_158.039 und den Gebrauch episodischer Abschweifungen; sodann auch, dass pwa_158.040 Spott und Laune, die zur Satire überall und wesentlich gehören, ihr pwa_158.041 wenigstens nicht fremd sind: in so fern wäre die Epistel auch didactische

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/176>, abgerufen am 24.11.2024.