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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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in der Form des Distichons heraus, denen er 1791 geistreiche und pwa_141.002
so gut als erschöpfende Anmerkungen über das griechische Epigramm pwa_141.003
folgen liess, und Göthe dichtete im Jahre 1790 seine Venetianischen pwa_141.004
Epigramme (LB. 2, 1079). Nach ihrem Vorgange verfassten seitdem pwa_141.005
auch andre Dichter Epigramme, zunächst Schiller, bei dem jedoch, pwa_141.006
als einem reflectierenden Dichter, die didactischen Epigramme überwiegen pwa_141.007
(LB. 2, 1157). Uebrigens hatte Göthe schon früher, aber vor pwa_141.008
ihm nur wenige andre deutsche Dichter, Epigramme der Empfindung pwa_141.009
verfasst, nur nicht in Distichen: er nennt sie Lieder, aber ihre zweigliedrige pwa_141.010
Gestalt, die sich in einfache Exposition und einfache Clausel pwa_141.011
theilt, macht sie zu Epigrammen. Ein Beispiel der Art ist Wandrers pwa_141.012
Nachtlied, das an ein Naturbild die dadurch angeregten Empfindungen pwa_141.013
anknüpft:

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Ueber allen Gipfeln Ist Ruh;
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In allen Wipfeln Spürest du
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Kaum einen Hauch;
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Die Vöglein schweigen im Walde.
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Warte nur! balde
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Ruhest du auch.
   LB. 2, 1023.

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Dergleichen epigrammatische Lieder finden wir seitdem namentlich bei pwa_141.021
Uhland, der durch seinen dichterischen Character auf das Epigramm pwa_141.022
der Empfindung angewiesen war. Von den s. g. Liedern gehört hieher pwa_141.023
z. B. Ruhethal:

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Wenn im letzten Abendstrahl
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Goldne Wolkenberge steigen,
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Und wie Alpen sich erzeigen,
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Frag' ich oft mit Thränen:
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Liegt wohl zwischen jenen
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Mein ersehntes Ruhethal?

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Andere Epigramme der Empfindung hat Uhland unter den Sinngedichten pwa_141.031
eingereiht; sie sind theils in Distichen, theils aber auch in Reimen pwa_141.032
abgefasst.

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Blicken wir noch weiter zurück bis ins Mittelalter, so finden wir pwa_141.034
in der italiänischen Poesie eine eigne Strophenform für das Epigramm, pwa_141.035
nämlich das Sonett. Seine vierzehn Zeilen lassen die Exposition wie pwa_141.036
die Clausel in reicherer Fülle entfalten als das antike Epigramm; aber pwa_141.037
dennoch bleibt der epigrammatische Grundriss, indem zwischen den pwa_141.038
acht ersten Zeilen und den sechs folgenden eben auch jener Gegensatz pwa_141.039
von Exposition und Clausel, von epischem Vordersatz und lyrischem pwa_141.040
Nachsatz besteht.

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Zur subjectiven epischen Lyrik gehört ausser der Elegie und dem pwa_141.042
Epigramm der Empfindung auch die lyrische Gelegenheitspoesie. Auch pwa_141.043
sie hat ein episches Element, die Gelegenheit, die äussere Wirklichkeit

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in der Form des Distichons heraus, denen er 1791 geistreiche und pwa_141.002
so gut als erschöpfende Anmerkungen über das griechische Epigramm pwa_141.003
folgen liess, und Göthe dichtete im Jahre 1790 seine Venetianischen pwa_141.004
Epigramme (LB. 2, 1079). Nach ihrem Vorgange verfassten seitdem pwa_141.005
auch andre Dichter Epigramme, zunächst Schiller, bei dem jedoch, pwa_141.006
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(LB. 2, 1157). Uebrigens hatte Göthe schon früher, aber vor pwa_141.008
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Gestalt, die sich in einfache Exposition und einfache Clausel pwa_141.011
theilt, macht sie zu Epigrammen. Ein Beispiel der Art ist Wandrers pwa_141.012
Nachtlied, das an ein Naturbild die dadurch angeregten Empfindungen pwa_141.013
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Ueber allen Gipfeln Ist Ruh;
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In allen Wipfeln Spürest du
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Kaum einen Hauch;
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Die Vöglein schweigen im Walde.
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Warte nur! balde
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Ruhest du auch.
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Dergleichen epigrammatische Lieder finden wir seitdem namentlich bei pwa_141.021
Uhland, der durch seinen dichterischen Character auf das Epigramm pwa_141.022
der Empfindung angewiesen war. Von den s. g. Liedern gehört hieher pwa_141.023
z. B. Ruhethal:

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Wenn im letzten Abendstrahl
pwa_141.025
Goldne Wolkenberge steigen,
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Und wie Alpen sich erzeigen,
pwa_141.027
Frag' ich oft mit Thränen:
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Liegt wohl zwischen jenen
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Mein ersehntes Ruhethal?

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Andere Epigramme der Empfindung hat Uhland unter den Sinngedichten pwa_141.031
eingereiht; sie sind theils in Distichen, theils aber auch in Reimen pwa_141.032
abgefasst.

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Blicken wir noch weiter zurück bis ins Mittelalter, so finden wir pwa_141.034
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nämlich das Sonett. Seine vierzehn Zeilen lassen die Exposition wie pwa_141.036
die Clausel in reicherer Fülle entfalten als das antike Epigramm; aber pwa_141.037
dennoch bleibt der epigrammatische Grundriss, indem zwischen den pwa_141.038
acht ersten Zeilen und den sechs folgenden eben auch jener Gegensatz pwa_141.039
von Exposition und Clausel, von epischem Vordersatz und lyrischem pwa_141.040
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Zur subjectiven epischen Lyrik gehört ausser der Elegie und dem pwa_141.042
Epigramm der Empfindung auch die lyrische Gelegenheitspoesie. Auch pwa_141.043
sie hat ein episches Element, die Gelegenheit, die äussere Wirklichkeit

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/159>, abgerufen am 25.11.2024.