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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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liegt weder vor dem Producierenden, noch vor dem Reproducierenden pwa_109.002
objectiv da: denn sie ist auch nicht der Gegenstand, an welchem die pwa_109.003
Didaxis ausgeübt wird, sie ist nur ein Mittel zum Zwecke; und der pwa_109.004
Zweck, das eigentliche Object der Production, ist die Lehre selbst: pwa_109.005
es wird hier durch die Wirklichkeit gelehrt. Mithin ist diese Art der pwa_109.006
didactischen Epik noch um vieles didactischer, noch um vieles mehr pwa_109.007
subjective Verstandessache, d. h. noch viel unpoetischer und prosaischer pwa_109.008
als die erste bereits abgehandelte Art: hier ist die epische Anschauung pwa_109.009
ganz der Willkür des dichtenden Subjectes anheimgegeben, und hinter pwa_109.010
ihr liegt irgend ein Urtheil oder ein Erfahrungssatz, die wiederum pwa_109.011
nur dem Verstande desselben Subjectes angehören.

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Um nun zuerst von der Fabel sprechen zu können, als von der pwa_109.013
einen Art dieser noch didactischeren Epik, müssen wir uns daran pwa_109.014
erinnern, wie bereits früherhin (S. 55) neben der Sage, dem Mythus pwa_109.015
und dem Märchen auch die Thiersage ist genannt worden als eine Form pwa_109.016
rein epischer Poesie, als ein Versuch, die Formen der Menschengeschichte pwa_109.017
ebenso auf die untermenschliche Thierwelt zu übertragen, pwa_109.018
wie man sie im Mythus auf das Uebermenschliche, auf die Gottheit pwa_109.019
übertrug; und wie sich auch erwiesen, dass in der einen Richtung pwa_109.020
wie in der andern der Mensch sei genöthigt gewesen, die geschichtlichen pwa_109.021
Formen aus seiner Phantasie zu schöpfen, da die historische pwa_109.022
Erinnerung ihm hier nichts an die Hand gab. Dergleichen rein epische pwa_109.023
Thiersagen haben Deutsche und Franzosen bis ins Mittelalter hinein pwa_109.024
besessen; ja es leben manche noch jetzt unter den deutschen Kindermärchen. pwa_109.025
Bei andern Nationen, die noch bis auf den heutigen Tag pwa_109.026
nicht weit über ihren einfachen Urzustand hinausgelangt sind, haben pwa_109.027
sich auch bis auf den heutigen Tag die alten epischen Thiersagen pwa_109.028
noch reiner und zahlreicher im gemeinen Munde erhalten: so bei den pwa_109.029
Serben, bei den Esthen.

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Sonst jedoch hat von den verschiedenen Formen der epischen pwa_109.031
Anschauung diese überall am frühesten vor den Fortschritten der pwa_109.032
Civilisation zurückweichen und ihre eigentliche Natur ablegen müssen. pwa_109.033
Wie hätte sich denn die verständige Menschheit länger mit dieser pwa_109.034
zwecklosen idealistischen Erhebung und Veredlung der Thierwelt pwa_109.035
befassen können? So wie die Unbefangenheit zu entschwinden begann, pwa_109.036
musste man alsbald auch die Thiersage, die ja lediglich ein Product pwa_109.037
der Phantasie ist, als leere Phantasterei betrachten und verachten pwa_109.038
lernen. Die Form war aber einmal da; sie gänzlich fallen lassen pwa_109.039
mochte man nicht: da behielt man sie denn zwar bei, aber in der pwa_109.040
That nur als Form, nur als Gefäss für Dinge, wie man sie grade pwa_109.041
hineinlegen mochte: die Thiersage, die bis dahin rein objective Gestaltung

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liegt weder vor dem Producierenden, noch vor dem Reproducierenden pwa_109.002
objectiv da: denn sie ist auch nicht der Gegenstand, an welchem die pwa_109.003
Didaxis ausgeübt wird, sie ist nur ein Mittel zum Zwecke; und der pwa_109.004
Zweck, das eigentliche Object der Production, ist die Lehre selbst: pwa_109.005
es wird hier durch die Wirklichkeit gelehrt. Mithin ist diese Art der pwa_109.006
didactischen Epik noch um vieles didactischer, noch um vieles mehr pwa_109.007
subjective Verstandessache, d. h. noch viel unpoetischer und prosaischer pwa_109.008
als die erste bereits abgehandelte Art: hier ist die epische Anschauung pwa_109.009
ganz der Willkür des dichtenden Subjectes anheimgegeben, und hinter pwa_109.010
ihr liegt irgend ein Urtheil oder ein Erfahrungssatz, die wiederum pwa_109.011
nur dem Verstande desselben Subjectes angehören.

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Um nun zuerst von der Fabel sprechen zu können, als von der pwa_109.013
einen Art dieser noch didactischeren Epik, müssen wir uns daran pwa_109.014
erinnern, wie bereits früherhin (S. 55) neben der Sage, dem Mythus pwa_109.015
und dem Märchen auch die Thiersage ist genannt worden als eine Form pwa_109.016
rein epischer Poesie, als ein Versuch, die Formen der Menschengeschichte pwa_109.017
ebenso auf die untermenschliche Thierwelt zu übertragen, pwa_109.018
wie man sie im Mythus auf das Uebermenschliche, auf die Gottheit pwa_109.019
übertrug; und wie sich auch erwiesen, dass in der einen Richtung pwa_109.020
wie in der andern der Mensch sei genöthigt gewesen, die geschichtlichen pwa_109.021
Formen aus seiner Phantasie zu schöpfen, da die historische pwa_109.022
Erinnerung ihm hier nichts an die Hand gab. Dergleichen rein epische pwa_109.023
Thiersagen haben Deutsche und Franzosen bis ins Mittelalter hinein pwa_109.024
besessen; ja es leben manche noch jetzt unter den deutschen Kindermärchen. pwa_109.025
Bei andern Nationen, die noch bis auf den heutigen Tag pwa_109.026
nicht weit über ihren einfachen Urzustand hinausgelangt sind, haben pwa_109.027
sich auch bis auf den heutigen Tag die alten epischen Thiersagen pwa_109.028
noch reiner und zahlreicher im gemeinen Munde erhalten: so bei den pwa_109.029
Serben, bei den Esthen.

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Sonst jedoch hat von den verschiedenen Formen der epischen pwa_109.031
Anschauung diese überall am frühesten vor den Fortschritten der pwa_109.032
Civilisation zurückweichen und ihre eigentliche Natur ablegen müssen. pwa_109.033
Wie hätte sich denn die verständige Menschheit länger mit dieser pwa_109.034
zwecklosen idealistischen Erhebung und Veredlung der Thierwelt pwa_109.035
befassen können? So wie die Unbefangenheit zu entschwinden begann, pwa_109.036
musste man alsbald auch die Thiersage, die ja lediglich ein Product pwa_109.037
der Phantasie ist, als leere Phantasterei betrachten und verachten pwa_109.038
lernen. Die Form war aber einmal da; sie gänzlich fallen lassen pwa_109.039
mochte man nicht: da behielt man sie denn zwar bei, aber in der pwa_109.040
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/127>, abgerufen am 22.11.2024.