Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_102.001 pwa_102.005 pwa_102.016 pwa_102.001 pwa_102.005 pwa_102.016 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0120" n="102"/><lb n="pwa_102.001"/> und Anlauf bezeichnet. Es war damit nur noch ein roher Stoff zum <lb n="pwa_102.002"/> Ordnen und Gestalten vorgelegt: erst später, erst nach und nach <lb n="pwa_102.003"/> sonderten sich die verschiedenen Arten, und was ganz unpoetische <lb n="pwa_102.004"/> Elemente waren, wurde meist beseitigt.</p> <p><lb n="pwa_102.005"/> Jetzt zunächst von derjenigen lehrhaften Epik, welche lehrt an <lb n="pwa_102.006"/> der gegebenen Wirklichkeit. Das Gefühl, auf dessen Leitung es hier, <lb n="pwa_102.007"/> wie überhaupt immer, in der Didactik ankommt, ist nach zwei Seiten <lb n="pwa_102.008"/> hin gerichtet, nach einer niederen und einer höhern, einer irdischen <lb n="pwa_102.009"/> und einer himmlischen, einer sinnlichen und einer sittlichen. Und so <lb n="pwa_102.010"/> kann sich auch die lehrhafte Epik bald an diese, bald an jene wenden. <lb n="pwa_102.011"/> Das sinnliche Gefühl wird angeregt und in Anspruch genommen, <lb n="pwa_102.012"/> wenn die Lehre sich zur Beschreibung gestaltet: im Idyll. Auf das <lb n="pwa_102.013"/> sittliche Gefühl wirkt die Lehre am liebsten so, dass sich der Verstand <lb n="pwa_102.014"/> in Widerspruch setzt mit der Wirklichkeit, welche die Einbildung <lb n="pwa_102.015"/> anschaut, also durch Vorhalten des Lächerlichen: durch die Satire.</p> <p><lb n="pwa_102.016"/> Das <hi rendition="#b">Idyll,</hi> gewöhnlich die Idylle (<foreign xml:lang="grc">εἰδύλλιον</foreign>): so heisst überhaupt <lb n="pwa_102.017"/> jedes kleinere, durch Zierlichkeit ansprechende Gedicht; insbesondre <lb n="pwa_102.018"/> nun ein solches, das zwar auf epischen, aus der gegebenen Wirklichkeit <lb n="pwa_102.019"/> entnommenen Anschauungen beruht, so jedoch, dass diese epischen <lb n="pwa_102.020"/> Anschauungen nur als Anlass und Grundlage zur Beschreibung, also <lb n="pwa_102.021"/> zu einer Art von Belehrung benützt werden. Also Erzählung und <lb n="pwa_102.022"/> zugleich Beschreibung: das ist ein Widerstreit von Scylla und Charybdis, <lb n="pwa_102.023"/> durch welchen es nur noch wenigen Dichtern gelungen ist heil <lb n="pwa_102.024"/> hindurchzuschiffen. Die Erzählung will vorwärts von Thatsache zu <lb n="pwa_102.025"/> Thatsache: sie eilt durch die Zeit; die Beschreibung will bei jeder <lb n="pwa_102.026"/> Aeusserlichkeit still halten und verweilen: sie hängt am Raume. Da <lb n="pwa_102.027"/> ist denn der Fehler nur zu gewöhnlich, dass die Beschreibung den <lb n="pwa_102.028"/> Fluss der Erzählung gradezu hemmt, indem sie sich unbeweglich an <lb n="pwa_102.029"/> einen Fleck fest heftet. Damit ist jedoch die epische Anschauung <lb n="pwa_102.030"/> nicht bloss als solche, sondern als poetische Anschauung überhaupt <lb n="pwa_102.031"/> aufgehoben und vernichtet: denn in so fern ist alle Poesie episch, als <lb n="pwa_102.032"/> überall ein causaler Fortschritt verlangt wird. Wie ist nun dieser <lb n="pwa_102.033"/> Widerstreit zu versöhnen? Man muss von beiden Seiten her dazu <lb n="pwa_102.034"/> thun, von Seiten der Erzählung und von Seiten der Beschreibung. <lb n="pwa_102.035"/> Für den erzählenden Theil, die epische Grundlage, wird grösste Einfachheit, <lb n="pwa_102.036"/> wird leichte Ueberschaulichkeit verlangt; es darf weder eine <lb n="pwa_102.037"/> grosse Reihe künstlich verflochtener Ereignisse, noch dürfen diese <lb n="pwa_102.038"/> Ereignisse an sich selbst gross und gewaltig sein: sonst wird bei der <lb n="pwa_102.039"/> Reproduction die Seele des Lesers zu sehr auf die Thatsachen hingelenkt; <lb n="pwa_102.040"/> er wird zu begierig gemacht auf den weiteren historischen <lb n="pwa_102.041"/> Verlauf, als dass er einen weilenden Blick werfen möchte auf die </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [102/0120]
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und Anlauf bezeichnet. Es war damit nur noch ein roher Stoff zum pwa_102.002
Ordnen und Gestalten vorgelegt: erst später, erst nach und nach pwa_102.003
sonderten sich die verschiedenen Arten, und was ganz unpoetische pwa_102.004
Elemente waren, wurde meist beseitigt.
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Jetzt zunächst von derjenigen lehrhaften Epik, welche lehrt an pwa_102.006
der gegebenen Wirklichkeit. Das Gefühl, auf dessen Leitung es hier, pwa_102.007
wie überhaupt immer, in der Didactik ankommt, ist nach zwei Seiten pwa_102.008
hin gerichtet, nach einer niederen und einer höhern, einer irdischen pwa_102.009
und einer himmlischen, einer sinnlichen und einer sittlichen. Und so pwa_102.010
kann sich auch die lehrhafte Epik bald an diese, bald an jene wenden. pwa_102.011
Das sinnliche Gefühl wird angeregt und in Anspruch genommen, pwa_102.012
wenn die Lehre sich zur Beschreibung gestaltet: im Idyll. Auf das pwa_102.013
sittliche Gefühl wirkt die Lehre am liebsten so, dass sich der Verstand pwa_102.014
in Widerspruch setzt mit der Wirklichkeit, welche die Einbildung pwa_102.015
anschaut, also durch Vorhalten des Lächerlichen: durch die Satire.
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Das Idyll, gewöhnlich die Idylle (εἰδύλλιον): so heisst überhaupt pwa_102.017
jedes kleinere, durch Zierlichkeit ansprechende Gedicht; insbesondre pwa_102.018
nun ein solches, das zwar auf epischen, aus der gegebenen Wirklichkeit pwa_102.019
entnommenen Anschauungen beruht, so jedoch, dass diese epischen pwa_102.020
Anschauungen nur als Anlass und Grundlage zur Beschreibung, also pwa_102.021
zu einer Art von Belehrung benützt werden. Also Erzählung und pwa_102.022
zugleich Beschreibung: das ist ein Widerstreit von Scylla und Charybdis, pwa_102.023
durch welchen es nur noch wenigen Dichtern gelungen ist heil pwa_102.024
hindurchzuschiffen. Die Erzählung will vorwärts von Thatsache zu pwa_102.025
Thatsache: sie eilt durch die Zeit; die Beschreibung will bei jeder pwa_102.026
Aeusserlichkeit still halten und verweilen: sie hängt am Raume. Da pwa_102.027
ist denn der Fehler nur zu gewöhnlich, dass die Beschreibung den pwa_102.028
Fluss der Erzählung gradezu hemmt, indem sie sich unbeweglich an pwa_102.029
einen Fleck fest heftet. Damit ist jedoch die epische Anschauung pwa_102.030
nicht bloss als solche, sondern als poetische Anschauung überhaupt pwa_102.031
aufgehoben und vernichtet: denn in so fern ist alle Poesie episch, als pwa_102.032
überall ein causaler Fortschritt verlangt wird. Wie ist nun dieser pwa_102.033
Widerstreit zu versöhnen? Man muss von beiden Seiten her dazu pwa_102.034
thun, von Seiten der Erzählung und von Seiten der Beschreibung. pwa_102.035
Für den erzählenden Theil, die epische Grundlage, wird grösste Einfachheit, pwa_102.036
wird leichte Ueberschaulichkeit verlangt; es darf weder eine pwa_102.037
grosse Reihe künstlich verflochtener Ereignisse, noch dürfen diese pwa_102.038
Ereignisse an sich selbst gross und gewaltig sein: sonst wird bei der pwa_102.039
Reproduction die Seele des Lesers zu sehr auf die Thatsachen hingelenkt; pwa_102.040
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Verlauf, als dass er einen weilenden Blick werfen möchte auf die
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