pwa_101.001 sich selbst, die evangelische Geschichte mit moralischen und mystischen pwa_101.002 Auslegungen der einzelnen Ereignisse durchflicht, ein sehr altes und das pwa_101.003 älteste Beispiel einer deutschen lehrhaften Epopöie; aber dann um so pwa_101.004 weniger die älteste hochdeutsche Messiade, wie sie der Anempfehlung pwa_101.005 wegen ein Herausgeber ebenso prunkhaft als unpasslich betitelt hat.
pwa_101.006 Zwei Hauptarten lehrhaft erzählender Poesie sind zu unterscheiden: pwa_101.007 solche für deren Anschauungen die Formen aus der gegebenen pwa_101.008 Wirklichkeit entlehnt sind, und solche, deren Wirklichkeit nur eine pwa_101.009 gesetzte und angenommene ist: jene lehrt an der Wirklichkeit, diese pwa_101.010 durch dieselbe. Beide haben jedoch das mit einander gemein, dass pwa_101.011 die erstere immer ihren Lehren eine Beziehung auf das Gefühl giebt, pwa_101.012 die andre gewöhnlich und meistentheils. Und das allein hält diese pwa_101.013 Gattung noch innerhalb der Poesie fest: denn wenn die Lehre, die an pwa_101.014 sich nur Sache des Verstandes ist, gar nicht über dessen Grenzen pwa_101.015 hinausgienge, wenn sie auch bei dem Reproducierenden ausschliesslich pwa_101.016 den Verstand anspräche, so könnte sie das immerhin in den schönsten pwa_101.017 Versen thun, es wäre doch nur Prosa. Der innere Zusammenhang pwa_101.018 aber beider Arten von Gedichten mit der übrigen epischen Poesie pwa_101.019 drückt sich schon in der metrischen Form aus, indem mit seltenen pwa_101.020 Ausnahmen das didactische Epos überall bei dem sonst gewohnten pwa_101.021 epischen Masse verharrt: so im griechischen Alterthum beim Hexameter, pwa_101.022 im deutschen und im französischen Mittelalter bei den paarweis pwa_101.023 reimenden kurzen Versen und beim Alexandriner.
pwa_101.024 Jene zwiefache Trennung, je nachdem die Wirklichkeit eine pwa_101.025 gegebene oder eine gesetzte ist, und die Ausschliessung der rein verständigen pwa_101.026 Lehre, das ist freilich selbst bei den Griechen nicht gleich pwa_101.027 von Anfang an so gewesen, sondern hat sich erst nach und nach so pwa_101.028 machen müssen. In dem ältesten Denkmal aller griechischen Lehrdichtung, pwa_101.029 in des Hesiodus Werken und Tagen, finden wir noch alle pwa_101.030 Arten nicht bloss von didactischer Epik, sondern überhaupt von didactischer pwa_101.031 Poesie, erlaubte und unerlaubte, poetische und eigentlich prosaische, pwa_101.032 ungesondert beisammen. Da lesen wir Vorschriften, wie sie pwa_101.033 nur der Verstand dem Verstande ertheilen konnte, über Ackerbau und pwa_101.034 über Handel zur See; dann wieder, indem die Lehre, jedoch ohne pwa_101.035 eine epische Anschauung zu gebrauchen, sich an das sittliche Gefühl pwa_101.036 wendet, Ermahnungen zu einem gerechten, unbescholtenen Wandel; pwa_101.037 dann als Grundlage und Mittel der Lehre epische Anschauungen, pwa_101.038 gegebene und gesetzte, überlieferte Sagen und erfundene Parabeln; pwa_101.039 dann endlich wieder ein Stück bloss beschreibender Poesie, eine pwa_101.040 Schilderung des Winters. Und das Alles bunt verwirrt durcheinander pwa_101.041 in einer Planlosigkeit, die recht dieses Werk als den ersten Versuch
pwa_101.001 sich selbst, die evangelische Geschichte mit moralischen und mystischen pwa_101.002 Auslegungen der einzelnen Ereignisse durchflicht, ein sehr altes und das pwa_101.003 älteste Beispiel einer deutschen lehrhaften Epopöie; aber dann um so pwa_101.004 weniger die älteste hochdeutsche Messiade, wie sie der Anempfehlung pwa_101.005 wegen ein Herausgeber ebenso prunkhaft als unpasslich betitelt hat.
pwa_101.006 Zwei Hauptarten lehrhaft erzählender Poesie sind zu unterscheiden: pwa_101.007 solche für deren Anschauungen die Formen aus der gegebenen pwa_101.008 Wirklichkeit entlehnt sind, und solche, deren Wirklichkeit nur eine pwa_101.009 gesetzte und angenommene ist: jene lehrt an der Wirklichkeit, diese pwa_101.010 durch dieselbe. Beide haben jedoch das mit einander gemein, dass pwa_101.011 die erstere immer ihren Lehren eine Beziehung auf das Gefühl giebt, pwa_101.012 die andre gewöhnlich und meistentheils. Und das allein hält diese pwa_101.013 Gattung noch innerhalb der Poesie fest: denn wenn die Lehre, die an pwa_101.014 sich nur Sache des Verstandes ist, gar nicht über dessen Grenzen pwa_101.015 hinausgienge, wenn sie auch bei dem Reproducierenden ausschliesslich pwa_101.016 den Verstand anspräche, so könnte sie das immerhin in den schönsten pwa_101.017 Versen thun, es wäre doch nur Prosa. Der innere Zusammenhang pwa_101.018 aber beider Arten von Gedichten mit der übrigen epischen Poesie pwa_101.019 drückt sich schon in der metrischen Form aus, indem mit seltenen pwa_101.020 Ausnahmen das didactische Epos überall bei dem sonst gewohnten pwa_101.021 epischen Masse verharrt: so im griechischen Alterthum beim Hexameter, pwa_101.022 im deutschen und im französischen Mittelalter bei den paarweis pwa_101.023 reimenden kurzen Versen und beim Alexandriner.
pwa_101.024 Jene zwiefache Trennung, je nachdem die Wirklichkeit eine pwa_101.025 gegebene oder eine gesetzte ist, und die Ausschliessung der rein verständigen pwa_101.026 Lehre, das ist freilich selbst bei den Griechen nicht gleich pwa_101.027 von Anfang an so gewesen, sondern hat sich erst nach und nach so pwa_101.028 machen müssen. In dem ältesten Denkmal aller griechischen Lehrdichtung, pwa_101.029 in des Hesiodus Werken und Tagen, finden wir noch alle pwa_101.030 Arten nicht bloss von didactischer Epik, sondern überhaupt von didactischer pwa_101.031 Poesie, erlaubte und unerlaubte, poetische und eigentlich prosaische, pwa_101.032 ungesondert beisammen. Da lesen wir Vorschriften, wie sie pwa_101.033 nur der Verstand dem Verstande ertheilen konnte, über Ackerbau und pwa_101.034 über Handel zur See; dann wieder, indem die Lehre, jedoch ohne pwa_101.035 eine epische Anschauung zu gebrauchen, sich an das sittliche Gefühl pwa_101.036 wendet, Ermahnungen zu einem gerechten, unbescholtenen Wandel; pwa_101.037 dann als Grundlage und Mittel der Lehre epische Anschauungen, pwa_101.038 gegebene und gesetzte, überlieferte Sagen und erfundene Parabeln; pwa_101.039 dann endlich wieder ein Stück bloss beschreibender Poesie, eine pwa_101.040 Schilderung des Winters. Und das Alles bunt verwirrt durcheinander pwa_101.041 in einer Planlosigkeit, die recht dieses Werk als den ersten Versuch
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Zwei Hauptarten lehrhaft erzählender Poesie sind zu unterscheiden: pwa_101.007
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/119>, abgerufen am 22.11.2024.
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