Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Vierter Gesang.
Und mein prächtiges Haus voll köstlicher Güter zerrüttet!
Könnt' ich nur jezo darin mit dem dritten Theile der Güter
Wohnen, und lebten die Männer, die im Gefilde vor Troja
Hingesunken sind, fern von der roßenährenden Argos!
Aber dennoch, wie sehr ich sie alle klag' und beweine;100
(Oftmal hab' ich hier so in meinem Hause geseßen,
Und mir jezo mit Thränen das Herz erleichtert, und jezo
Wieder geruht; denn bald ermüdet der starrende Kummer!)
Dennoch, wie sehr ich traure, bewein' ich alle nicht so sehr,
Als den Einen, der mir den Schlaf und die Speise verleidet,105
Denk' ich seiner! Denn das hat kein Achaier erduldet,
Was Odüßeus erduldet' und trug! Ihm selber war Unglück
Von dem Schicksal bestimmt, und mir unendlicher Jammer,
Seinethalben des lang abwesenden, weil wir nicht wißen,
Ob er leb' oder todt sei. Vielleicht beweinen ihn jezo110
Schon Laertäs der Greis, und die keusche Pänelopeia,
Und Tälemachos, den er als Kind im Hause zurückließ!

Also sprach er, und rührte Tälemachos herzlich zu weinen.
Seinen Wimpern entstürzte die Thräne, als er vom Vater
Hörte; da hüllt' er sich schnell vor die Augen den purpurnen Mantel,115
Faßend mit beiden Händen; und Menelaos erkannt' ihn.
Dieser dachte darauf umher in zweifelnder Seele:
Ob er ihn ruhig ließe an seinen Vater gedenken;
Oder ob er zuerst ihn fragt', und alles erforschte.

Als er solche Gedanken in zweifelnder Seele bewegte;120
Wallte Helena her aus der hohen duftenden Kammer,

Vierter Geſang.
Und mein praͤchtiges Haus voll koͤſtlicher Guͤter zerruͤttet!
Koͤnnt' ich nur jezo darin mit dem dritten Theile der Guͤter
Wohnen, und lebten die Maͤnner, die im Gefilde vor Troja
Hingeſunken ſind, fern von der roßenaͤhrenden Argos!
Aber dennoch, wie ſehr ich ſie alle klag' und beweine;100
(Oftmal hab' ich hier ſo in meinem Hauſe geſeßen,
Und mir jezo mit Thraͤnen das Herz erleichtert, und jezo
Wieder geruht; denn bald ermuͤdet der ſtarrende Kummer!)
Dennoch, wie ſehr ich traure, bewein' ich alle nicht ſo ſehr,
Als den Einen, der mir den Schlaf und die Speiſe verleidet,105
Denk' ich ſeiner! Denn das hat kein Achaier erduldet,
Was Oduͤßeus erduldet' und trug! Ihm ſelber war Ungluͤck
Von dem Schickſal beſtimmt, und mir unendlicher Jammer,
Seinethalben des lang abweſenden, weil wir nicht wißen,
Ob er leb' oder todt ſei. Vielleicht beweinen ihn jezo110
Schon Laertaͤs der Greis, und die keuſche Paͤnelopeia,
Und Taͤlemachos, den er als Kind im Hauſe zuruͤckließ!

Alſo ſprach er, und ruͤhrte Taͤlemachos herzlich zu weinen.
Seinen Wimpern entſtuͤrzte die Thraͤne, als er vom Vater
Hoͤrte; da huͤllt' er ſich ſchnell vor die Augen den purpurnen Mantel,115
Faßend mit beiden Haͤnden; und Menelaos erkannt' ihn.
Dieſer dachte darauf umher in zweifelnder Seele:
Ob er ihn ruhig ließe an ſeinen Vater gedenken;
Oder ob er zuerſt ihn fragt', und alles erforſchte.

Als er ſolche Gedanken in zweifelnder Seele bewegte;120
Wallte Helena her aus der hohen duftenden Kammer,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0073" n="67"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Vierter Ge&#x017F;ang</hi>.</fw><lb/>
Und mein pra&#x0364;chtiges Haus voll ko&#x0364;&#x017F;tlicher Gu&#x0364;ter zerru&#x0364;ttet!<lb/>
Ko&#x0364;nnt' ich nur jezo darin mit dem dritten Theile der Gu&#x0364;ter<lb/>
Wohnen, und lebten die Ma&#x0364;nner, die im Gefilde vor Troja<lb/>
Hinge&#x017F;unken &#x017F;ind, fern von der roßena&#x0364;hrenden Argos!<lb/>
Aber dennoch, wie &#x017F;ehr ich &#x017F;ie alle klag' und beweine;<note place="right">100</note><lb/>
(Oftmal hab' ich hier &#x017F;o in meinem Hau&#x017F;e ge&#x017F;eßen,<lb/>
Und mir jezo mit Thra&#x0364;nen das Herz erleichtert, und jezo<lb/>
Wieder geruht; denn bald ermu&#x0364;det der &#x017F;tarrende Kummer!)<lb/>
Dennoch, wie &#x017F;ehr ich traure, bewein' ich alle nicht &#x017F;o &#x017F;ehr,<lb/>
Als den Einen, der mir den Schlaf und die Spei&#x017F;e verleidet,<note place="right">105</note><lb/>
Denk' ich &#x017F;einer! Denn das hat kein Achaier erduldet,<lb/>
Was Odu&#x0364;ßeus erduldet' und trug! Ihm &#x017F;elber war Unglu&#x0364;ck<lb/>
Von dem Schick&#x017F;al be&#x017F;timmt, und mir unendlicher Jammer,<lb/>
Seinethalben des lang abwe&#x017F;enden, weil wir nicht wißen,<lb/>
Ob er leb' oder todt &#x017F;ei. Vielleicht beweinen ihn jezo<note place="right">110</note><lb/>
Schon Laerta&#x0364;s der Greis, und die keu&#x017F;che  Pa&#x0364;nelopeia,<lb/>
Und Ta&#x0364;lemachos, den er als Kind im Hau&#x017F;e zuru&#x0364;ckließ!</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach er, und ru&#x0364;hrte Ta&#x0364;lemachos herzlich zu weinen.<lb/>
Seinen Wimpern ent&#x017F;tu&#x0364;rzte die Thra&#x0364;ne, als er vom Vater<lb/>
Ho&#x0364;rte; da hu&#x0364;llt' er &#x017F;ich &#x017F;chnell vor die Augen den purpurnen Mantel,<note place="right">115</note><lb/>
Faßend mit beiden Ha&#x0364;nden; und Menelaos erkannt' ihn.<lb/>
Die&#x017F;er dachte darauf umher in zweifelnder Seele:<lb/>
Ob er ihn ruhig ließe an &#x017F;einen Vater gedenken;<lb/>
Oder ob er zuer&#x017F;t ihn fragt', und alles erfor&#x017F;chte.</p><lb/>
        <p>Als er &#x017F;olche Gedanken in zweifelnder Seele bewegte;<note place="right">120</note><lb/>
Wallte Helena her aus der hohen duftenden Kammer,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[67/0073] Vierter Geſang. Und mein praͤchtiges Haus voll koͤſtlicher Guͤter zerruͤttet! Koͤnnt' ich nur jezo darin mit dem dritten Theile der Guͤter Wohnen, und lebten die Maͤnner, die im Gefilde vor Troja Hingeſunken ſind, fern von der roßenaͤhrenden Argos! Aber dennoch, wie ſehr ich ſie alle klag' und beweine; (Oftmal hab' ich hier ſo in meinem Hauſe geſeßen, Und mir jezo mit Thraͤnen das Herz erleichtert, und jezo Wieder geruht; denn bald ermuͤdet der ſtarrende Kummer!) Dennoch, wie ſehr ich traure, bewein' ich alle nicht ſo ſehr, Als den Einen, der mir den Schlaf und die Speiſe verleidet, Denk' ich ſeiner! Denn das hat kein Achaier erduldet, Was Oduͤßeus erduldet' und trug! Ihm ſelber war Ungluͤck Von dem Schickſal beſtimmt, und mir unendlicher Jammer, Seinethalben des lang abweſenden, weil wir nicht wißen, Ob er leb' oder todt ſei. Vielleicht beweinen ihn jezo Schon Laertaͤs der Greis, und die keuſche Paͤnelopeia, Und Taͤlemachos, den er als Kind im Hauſe zuruͤckließ! 100 105 110 Alſo ſprach er, und ruͤhrte Taͤlemachos herzlich zu weinen. Seinen Wimpern entſtuͤrzte die Thraͤne, als er vom Vater Hoͤrte; da huͤllt' er ſich ſchnell vor die Augen den purpurnen Mantel, Faßend mit beiden Haͤnden; und Menelaos erkannt' ihn. Dieſer dachte darauf umher in zweifelnder Seele: Ob er ihn ruhig ließe an ſeinen Vater gedenken; Oder ob er zuerſt ihn fragt', und alles erforſchte. 115 Als er ſolche Gedanken in zweifelnder Seele bewegte; Wallte Helena her aus der hohen duftenden Kammer, 120

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/73
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/73>, abgerufen am 08.05.2024.