Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Odüßee.
Dann bedacht' er sich hin und her, mit wankendem Vorsaz:
Ob er ihn küßend umarmte, den lieben Vater, und alles 235
Sagte, wie er nun endlich zur Heimat wiedergekehrt sei;
Oder ihn erst ausfragte, um seine Seele zu prüfen.
Dieser Gedanke schien dem Zweifelnden endlich der beßte:
Erst mit sanftem Tadel des Vaters Seele zu prüfen.
Dieses beschloß Odüßeus, und eilte hin zu Laertäs, 240
Der, mit gesenktem Haupte, des Baumes Wurzel umhackte;
Und der trefliche Sohn trat nahe zum Vater, und sagte:

Alter, es fehlet dir nicht an Kunst den Garten zu bauen!
Schön ist alles bestellt; kein einziges dieser Gewächse,
Keine Rebe vermißt, kein Oelbaum, Feigen- und Birnbaum, 245
Keines der Beet' im Garten vermißt die gehörige Pflege!
Eins erinnere ich nur; nim mirs nicht übel, o Vater!
Du wirst selber nicht gut gepflegt! Wie kümmerlich gehst du,
Schwach vor Alter, und schmuzig dabei, und häßlich bekleidet!
Wegen der Faulheit gewiß kann dich dein Herr nicht versäumen! 250
Selbst der Gedank' an Knechtschaft verschwindet einem Betrachter
Deiner Gestalt und Größe; du hast ein königlich Ansehn:
Gleich als ob dir gebührte, dich nach dem Bad' und der Mahlzeit
Sanft zur Ruhe zu legen; denn das ist die Pflege der Alten.
Aber verkündige mir, und sage die lautere Warheit: 255
Welcher Mann ist dein Herr, und weßen Garten besorgst du?
Auch verkündige mir aufrichtig, damit ich es wiße:
Sind wir denn würklich hier in Ithaka, wie mir ein Mann dort
Sagte, welchem ich begegnete, als ich hieher ging?
Aber der Mann war nicht so artig, mir alles zu sagen, 260
Oder auf meine Frage zu achten, wegen des Gastfreunds,

Oduͤßee.
Dann bedacht' er ſich hin und her, mit wankendem Vorſaz:
Ob er ihn kuͤßend umarmte, den lieben Vater, und alles 235
Sagte, wie er nun endlich zur Heimat wiedergekehrt ſei;
Oder ihn erſt ausfragte, um ſeine Seele zu pruͤfen.
Dieſer Gedanke ſchien dem Zweifelnden endlich der beßte:
Erſt mit ſanftem Tadel des Vaters Seele zu pruͤfen.
Dieſes beſchloß Oduͤßeus, und eilte hin zu Laertaͤs, 240
Der, mit geſenktem Haupte, des Baumes Wurzel umhackte;
Und der trefliche Sohn trat nahe zum Vater, und ſagte:

Alter, es fehlet dir nicht an Kunſt den Garten zu bauen!
Schoͤn iſt alles beſtellt; kein einziges dieſer Gewaͤchſe,
Keine Rebe vermißt, kein Oelbaum, Feigen- und Birnbaum, 245
Keines der Beet' im Garten vermißt die gehoͤrige Pflege!
Eins erinnere ich nur; nim mirs nicht uͤbel, o Vater!
Du wirſt ſelber nicht gut gepflegt! Wie kuͤmmerlich gehſt du,
Schwach vor Alter, und ſchmuzig dabei, und haͤßlich bekleidet!
Wegen der Faulheit gewiß kann dich dein Herr nicht verſaͤumen! 250
Selbſt der Gedank' an Knechtſchaft verſchwindet einem Betrachter
Deiner Geſtalt und Groͤße; du haſt ein koͤniglich Anſehn:
Gleich als ob dir gebuͤhrte, dich nach dem Bad' und der Mahlzeit
Sanft zur Ruhe zu legen; denn das iſt die Pflege der Alten.
Aber verkuͤndige mir, und ſage die lautere Warheit: 255
Welcher Mann iſt dein Herr, und weßen Garten beſorgſt du?
Auch verkuͤndige mir aufrichtig, damit ich es wiße:
Sind wir denn wuͤrklich hier in Ithaka, wie mir ein Mann dort
Sagte, welchem ich begegnete, als ich hieher ging?
Aber der Mann war nicht ſo artig, mir alles zu ſagen, 260
Oder auf meine Frage zu achten, wegen des Gaſtfreunds,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0464" n="458"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Odu&#x0364;ßee.</hi></fw><lb/>
Dann bedacht' er &#x017F;ich hin und her, mit wankendem Vor&#x017F;az:<lb/>
Ob er ihn ku&#x0364;ßend umarmte, den lieben Vater, und alles <note place="right">235</note><lb/>
Sagte, wie er nun endlich zur Heimat wiedergekehrt &#x017F;ei;<lb/>
Oder ihn er&#x017F;t ausfragte, um &#x017F;eine Seele zu pru&#x0364;fen.<lb/>
Die&#x017F;er Gedanke &#x017F;chien dem Zweifelnden endlich der beßte:<lb/>
Er&#x017F;t mit &#x017F;anftem Tadel des Vaters Seele zu pru&#x0364;fen.<lb/>
Die&#x017F;es be&#x017F;chloß Odu&#x0364;ßeus, und eilte hin zu Laerta&#x0364;s, <note place="right">240</note><lb/>
Der, mit ge&#x017F;enktem Haupte, des Baumes Wurzel umhackte;<lb/>
Und der trefliche Sohn trat nahe zum Vater, und &#x017F;agte:</p><lb/>
        <p>Alter, es fehlet dir nicht an Kun&#x017F;t den Garten zu bauen!<lb/>
Scho&#x0364;n i&#x017F;t alles be&#x017F;tellt; kein einziges die&#x017F;er Gewa&#x0364;ch&#x017F;e,<lb/>
Keine Rebe vermißt, kein Oelbaum, Feigen- und Birnbaum, <note place="right">245</note><lb/>
Keines der Beet' im Garten vermißt die geho&#x0364;rige Pflege!<lb/>
Eins erinnere ich nur; nim mirs nicht u&#x0364;bel, o Vater!<lb/>
Du wir&#x017F;t &#x017F;elber nicht gut gepflegt! Wie ku&#x0364;mmerlich geh&#x017F;t du,<lb/>
Schwach vor Alter, und &#x017F;chmuzig dabei, und ha&#x0364;ßlich bekleidet!<lb/>
Wegen der Faulheit gewiß kann dich dein Herr nicht ver&#x017F;a&#x0364;umen! <note place="right">250</note><lb/>
Selb&#x017F;t der Gedank' an Knecht&#x017F;chaft ver&#x017F;chwindet einem Betrachter<lb/>
Deiner Ge&#x017F;talt und Gro&#x0364;ße; du ha&#x017F;t ein ko&#x0364;niglich An&#x017F;ehn:<lb/>
Gleich als ob dir gebu&#x0364;hrte, dich nach dem Bad' und der Mahlzeit<lb/>
Sanft zur Ruhe zu legen; denn das i&#x017F;t die Pflege der Alten.<lb/>
Aber verku&#x0364;ndige mir, und &#x017F;age die lautere Warheit: <note place="right">255</note><lb/>
Welcher Mann i&#x017F;t dein Herr, und weßen Garten be&#x017F;org&#x017F;t du?<lb/>
Auch verku&#x0364;ndige mir aufrichtig, damit ich es wiße:<lb/>
Sind wir denn wu&#x0364;rklich hier in Ithaka, wie mir ein Mann dort<lb/>
Sagte, welchem ich begegnete, als ich hieher ging?<lb/>
Aber der Mann war nicht &#x017F;o artig, mir alles zu &#x017F;agen, <note place="right">260</note><lb/>
Oder auf meine Frage zu achten, wegen des Ga&#x017F;tfreunds,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[458/0464] Oduͤßee. Dann bedacht' er ſich hin und her, mit wankendem Vorſaz: Ob er ihn kuͤßend umarmte, den lieben Vater, und alles Sagte, wie er nun endlich zur Heimat wiedergekehrt ſei; Oder ihn erſt ausfragte, um ſeine Seele zu pruͤfen. Dieſer Gedanke ſchien dem Zweifelnden endlich der beßte: Erſt mit ſanftem Tadel des Vaters Seele zu pruͤfen. Dieſes beſchloß Oduͤßeus, und eilte hin zu Laertaͤs, Der, mit geſenktem Haupte, des Baumes Wurzel umhackte; Und der trefliche Sohn trat nahe zum Vater, und ſagte: 235 240 Alter, es fehlet dir nicht an Kunſt den Garten zu bauen! Schoͤn iſt alles beſtellt; kein einziges dieſer Gewaͤchſe, Keine Rebe vermißt, kein Oelbaum, Feigen- und Birnbaum, Keines der Beet' im Garten vermißt die gehoͤrige Pflege! Eins erinnere ich nur; nim mirs nicht uͤbel, o Vater! Du wirſt ſelber nicht gut gepflegt! Wie kuͤmmerlich gehſt du, Schwach vor Alter, und ſchmuzig dabei, und haͤßlich bekleidet! Wegen der Faulheit gewiß kann dich dein Herr nicht verſaͤumen! Selbſt der Gedank' an Knechtſchaft verſchwindet einem Betrachter Deiner Geſtalt und Groͤße; du haſt ein koͤniglich Anſehn: Gleich als ob dir gebuͤhrte, dich nach dem Bad' und der Mahlzeit Sanft zur Ruhe zu legen; denn das iſt die Pflege der Alten. Aber verkuͤndige mir, und ſage die lautere Warheit: Welcher Mann iſt dein Herr, und weßen Garten beſorgſt du? Auch verkuͤndige mir aufrichtig, damit ich es wiße: Sind wir denn wuͤrklich hier in Ithaka, wie mir ein Mann dort Sagte, welchem ich begegnete, als ich hieher ging? Aber der Mann war nicht ſo artig, mir alles zu ſagen, Oder auf meine Frage zu achten, wegen des Gaſtfreunds, 245 250 255 260

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/464
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/464>, abgerufen am 23.11.2024.