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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

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Odüßee.
Mit zween Riegeln verwahrt. Die Schaffnerin schaltete drinnen
Tag und Nacht, und bewachte die Güter mit sorgsamer Klugheit,
Eurükleia, die Tochter Ops, des Sohnes Peisänors.
Und Tälemachos rief sie hinein ins Gewölb', und sagte:

Mütterchen, eil und schöpfe mir Wein in irdene Krüge, 350
Mild und edel, den beßten nach jenem, welchen du schonest
Für den duldenden König, den göttergleichen Odüßeus,
Wenn er einmal heimkehret, dem Todesschicksal entronnen.
Hiermit fülle mir zwölf, und spünde sie alle mit Deckeln.
Ferner schütte mir Mehl in dichtgenähete Schläuche; 355
Zwanzig Maaße gieb mir des feingemalenen Mehles.
Aber thu es geheim, und lege mir alles zusammen.
Denn am Abende komm' ich und hol' es, wenn sich die Mutter
In ihr oberes Zimmer entfernt, und der Ruhe gedenket.
Denn ich gehe gen Sparta und zu der sandigen Pülos, 360
Um nach Kunde zu forschen von meines Vaters Zurückkunft.

Also sprach er. Da schluchzte die Pflegerin Eurükleia;
Lautwehklagend begann sie, und sprach die geflügelten Worte:

Liebes Söhnchen, wie kann in dein Herz ein solcher Gedanke
Kommen? Wo denkst du denn hin in die weite Welt zu gehen, 365
Einziger liebster Sohn? Ach ferne vom Vaterlande
Starb der edle Odüßeus bei unbekannten Barbaren!
Und sie werden dir gleich, wenn du gehst, nachstellen, die Meuchler!
Daß sie dich tödten mit List, und alles unter sich theilen!
Bleibe denn hier, und siz auf dem Deinigen! Lieber, was zwingt dich, 370
Auf der wütenden See in Noth und Kummer zu irren?

Und der verständige Jüngling Tälemachos sagte dagegen:
Mütterchen, sei getrost! ich handle nicht ohne die Götter.

Oduͤßee.
Mit zween Riegeln verwahrt. Die Schaffnerin ſchaltete drinnen
Tag und Nacht, und bewachte die Guͤter mit ſorgſamer Klugheit,
Euruͤkleia, die Tochter Ops, des Sohnes Peiſaͤnors.
Und Taͤlemachos rief ſie hinein ins Gewoͤlb', und ſagte:

Muͤtterchen, eil und ſchoͤpfe mir Wein in irdene Kruͤge, 350
Mild und edel, den beßten nach jenem, welchen du ſchoneſt
Fuͤr den duldenden Koͤnig, den goͤttergleichen Oduͤßeus,
Wenn er einmal heimkehret, dem Todesſchickſal entronnen.
Hiermit fuͤlle mir zwoͤlf, und ſpuͤnde ſie alle mit Deckeln.
Ferner ſchuͤtte mir Mehl in dichtgenaͤhete Schlaͤuche; 355
Zwanzig Maaße gieb mir des feingemalenen Mehles.
Aber thu es geheim, und lege mir alles zuſammen.
Denn am Abende komm' ich und hol' es, wenn ſich die Mutter
In ihr oberes Zimmer entfernt, und der Ruhe gedenket.
Denn ich gehe gen Sparta und zu der ſandigen Puͤlos, 360
Um nach Kunde zu forſchen von meines Vaters Zuruͤckkunft.

Alſo ſprach er. Da ſchluchzte die Pflegerin Euruͤkleia;
Lautwehklagend begann ſie, und ſprach die gefluͤgelten Worte:

Liebes Soͤhnchen, wie kann in dein Herz ein ſolcher Gedanke
Kommen? Wo denkſt du denn hin in die weite Welt zu gehen, 365
Einziger liebſter Sohn? Ach ferne vom Vaterlande
Starb der edle Oduͤßeus bei unbekannten Barbaren!
Und ſie werden dir gleich, wenn du gehſt, nachſtellen, die Meuchler!
Daß ſie dich toͤdten mit Liſt, und alles unter ſich theilen!
Bleibe denn hier, und ſiz auf dem Deinigen! Lieber, was zwingt dich, 370
Auf der wuͤtenden See in Noth und Kummer zu irren?

Und der verſtaͤndige Juͤngling Taͤlemachos ſagte dagegen:
Muͤtterchen, ſei getroſt! ich handle nicht ohne die Goͤtter.

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[40/0046] Oduͤßee. Mit zween Riegeln verwahrt. Die Schaffnerin ſchaltete drinnen Tag und Nacht, und bewachte die Guͤter mit ſorgſamer Klugheit, Euruͤkleia, die Tochter Ops, des Sohnes Peiſaͤnors. Und Taͤlemachos rief ſie hinein ins Gewoͤlb', und ſagte: Muͤtterchen, eil und ſchoͤpfe mir Wein in irdene Kruͤge, Mild und edel, den beßten nach jenem, welchen du ſchoneſt Fuͤr den duldenden Koͤnig, den goͤttergleichen Oduͤßeus, Wenn er einmal heimkehret, dem Todesſchickſal entronnen. Hiermit fuͤlle mir zwoͤlf, und ſpuͤnde ſie alle mit Deckeln. Ferner ſchuͤtte mir Mehl in dichtgenaͤhete Schlaͤuche; Zwanzig Maaße gieb mir des feingemalenen Mehles. Aber thu es geheim, und lege mir alles zuſammen. Denn am Abende komm' ich und hol' es, wenn ſich die Mutter In ihr oberes Zimmer entfernt, und der Ruhe gedenket. Denn ich gehe gen Sparta und zu der ſandigen Puͤlos, Um nach Kunde zu forſchen von meines Vaters Zuruͤckkunft. 350 355 360 Alſo ſprach er. Da ſchluchzte die Pflegerin Euruͤkleia; Lautwehklagend begann ſie, und ſprach die gefluͤgelten Worte: Liebes Soͤhnchen, wie kann in dein Herz ein ſolcher Gedanke Kommen? Wo denkſt du denn hin in die weite Welt zu gehen, Einziger liebſter Sohn? Ach ferne vom Vaterlande Starb der edle Oduͤßeus bei unbekannten Barbaren! Und ſie werden dir gleich, wenn du gehſt, nachſtellen, die Meuchler! Daß ſie dich toͤdten mit Liſt, und alles unter ſich theilen! Bleibe denn hier, und ſiz auf dem Deinigen! Lieber, was zwingt dich, Auf der wuͤtenden See in Noth und Kummer zu irren? 365 370 Und der verſtaͤndige Juͤngling Taͤlemachos ſagte dagegen: Muͤtterchen, ſei getroſt! ich handle nicht ohne die Goͤtter.

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Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/46>, abgerufen am 26.04.2024.