Vieler Künste gelehrt, und bildet reizende Werke: Also umgoß die Göttin ihm Haupt und Schultern mit Anmut. Und er stieg aus dem Bad', an Gestalt den Unsterblichen ähnlich; Kam, und sezte sich wieder auf seinem verlaßenen Seßel, Gegenüber dem Siz der edlen Gemahlin, und sagte: 165
Wunderliche, gewiß vor allen Weibern der Erde Schufen die Himmlischen dir ein Herz so starr und gefühllos! Keine andere Frau wird sich von ihrem Gemahle So halsstarrig entfernen, der nach unendlicher Trübsal Endlich im zwanzigsten Jahre zum Vaterlande zurückkehrt! 170 Aber bereite mein Bett', o Mütterchen, daß ich allein mich Niederlege: denn diese hat wahrlich ein Herz von Eisen!
Ihm antwortete drauf die kluge Pänelopeia: Wunderlicher, mich hält so wenig Stolz wie Verachtung Oder Befremden zurück; ich weiß recht gut, wie du aussahst, 175 Als du von Ithaka fuhrst im langberuderten Schiffe. Aber wohlan! bereite sein Lager ihm, Eurükleia, Außerhalb des schönen Gemachs, das er selber gebauet. Sezt das zierliche Bette hinaus, und leget zum Ruhen Wollichte Felle hinein, und prächtige Decken und Mäntel. 180
Also sprach sie zum Schein, den Gemahl zu versuchen. Doch zürnend Wandte sich jezt Odüßeus zu seiner edlen Gemahlin:
Wahrlich, o Frau, dies Wort hat meine Seele verwundet! Wer hat mein Bette denn anders gesezt? das könnte ja schwerlich Selbst der erfahrenste Mann; wo nicht der Unsterblichen einer 185 Durch sein allmächtiges Wort es leicht von der Stelle versezte: Doch kein sterblicher Mensch, und trozt' er in Kräften der Jugend, Könnt' es hinwegarbeiten! Ein wunderbares Geheimniß
Dreiundzwanzigſter Geſang.
Vieler Kuͤnſte gelehrt, und bildet reizende Werke: Alſo umgoß die Goͤttin ihm Haupt und Schultern mit Anmut. Und er ſtieg aus dem Bad', an Geſtalt den Unſterblichen aͤhnlich; Kam, und ſezte ſich wieder auf ſeinem verlaßenen Seßel, Gegenuͤber dem Siz der edlen Gemahlin, und ſagte: 165
Wunderliche, gewiß vor allen Weibern der Erde Schufen die Himmliſchen dir ein Herz ſo ſtarr und gefuͤhllos! Keine andere Frau wird ſich von ihrem Gemahle So halsſtarrig entfernen, der nach unendlicher Truͤbſal Endlich im zwanzigſten Jahre zum Vaterlande zuruͤckkehrt! 170 Aber bereite mein Bett', o Muͤtterchen, daß ich allein mich Niederlege: denn dieſe hat wahrlich ein Herz von Eiſen!
Ihm antwortete drauf die kluge Paͤnelopeia: Wunderlicher, mich haͤlt ſo wenig Stolz wie Verachtung Oder Befremden zuruͤck; ich weiß recht gut, wie du ausſahſt, 175 Als du von Ithaka fuhrſt im langberuderten Schiffe. Aber wohlan! bereite ſein Lager ihm, Euruͤkleia, Außerhalb des ſchoͤnen Gemachs, das er ſelber gebauet. Sezt das zierliche Bette hinaus, und leget zum Ruhen Wollichte Felle hinein, und praͤchtige Decken und Maͤntel. 180
Alſo ſprach ſie zum Schein, den Gemahl zu verſuchen. Doch zuͤrnend Wandte ſich jezt Oduͤßeus zu ſeiner edlen Gemahlin:
Wahrlich, o Frau, dies Wort hat meine Seele verwundet! Wer hat mein Bette denn anders geſezt? das koͤnnte ja ſchwerlich Selbſt der erfahrenſte Mann; wo nicht der Unſterblichen einer 185 Durch ſein allmaͤchtiges Wort es leicht von der Stelle verſezte: Doch kein ſterblicher Menſch, und trozt' er in Kraͤften der Jugend, Koͤnnt' es hinwegarbeiten! Ein wunderbares Geheimniß
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Dreiundzwanzigſter Geſang.
Vieler Kuͤnſte gelehrt, und bildet reizende Werke:
Alſo umgoß die Goͤttin ihm Haupt und Schultern mit Anmut.
Und er ſtieg aus dem Bad', an Geſtalt den Unſterblichen aͤhnlich;
Kam, und ſezte ſich wieder auf ſeinem verlaßenen Seßel,
Gegenuͤber dem Siz der edlen Gemahlin, und ſagte:
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Wunderliche, gewiß vor allen Weibern der Erde
Schufen die Himmliſchen dir ein Herz ſo ſtarr und gefuͤhllos!
Keine andere Frau wird ſich von ihrem Gemahle
So halsſtarrig entfernen, der nach unendlicher Truͤbſal
Endlich im zwanzigſten Jahre zum Vaterlande zuruͤckkehrt!
Aber bereite mein Bett', o Muͤtterchen, daß ich allein mich
Niederlege: denn dieſe hat wahrlich ein Herz von Eiſen!
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Ihm antwortete drauf die kluge Paͤnelopeia:
Wunderlicher, mich haͤlt ſo wenig Stolz wie Verachtung
Oder Befremden zuruͤck; ich weiß recht gut, wie du ausſahſt,
Als du von Ithaka fuhrſt im langberuderten Schiffe.
Aber wohlan! bereite ſein Lager ihm, Euruͤkleia,
Außerhalb des ſchoͤnen Gemachs, das er ſelber gebauet.
Sezt das zierliche Bette hinaus, und leget zum Ruhen
Wollichte Felle hinein, und praͤchtige Decken und Maͤntel.
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Alſo ſprach ſie zum Schein, den Gemahl zu verſuchen. Doch zuͤrnend
Wandte ſich jezt Oduͤßeus zu ſeiner edlen Gemahlin:
Wahrlich, o Frau, dies Wort hat meine Seele verwundet!
Wer hat mein Bette denn anders geſezt? das koͤnnte ja ſchwerlich
Selbſt der erfahrenſte Mann; wo nicht der Unſterblichen einer
Durch ſein allmaͤchtiges Wort es leicht von der Stelle verſezte:
Doch kein ſterblicher Menſch, und trozt' er in Kraͤften der Jugend,
Koͤnnt' es hinwegarbeiten! Ein wunderbares Geheimniß
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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/447>, abgerufen am 22.11.2024.
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