Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Odüßee.
Noch drei andere hatt' er: der eine, Eurünomos, lebte
Unter den Freiern, und zween besorgten des Vaters Geschäfte;
Dennoch bejammert' er stets des verlorenen Sohnes Gedächtniß.
Thränend begann der Greis, und redete vor der Versammlung:

Höret mich jezt, ihr Männer von Ithaka, was ich euch sage! 25
Keine Versammlung ward und keine Sizung gehalten,
Seit der edle Odüßeus die Schiffe gen Troja geführt hat.
Wer hat uns denn heute versammelt? Welcher der Alten
Oder der Jünglinge hier? Und welche Sache bewog ihn?
Höret' er etwa Botschaft von einem nahenden Kriegsheer, 30
Daß er uns allen verkünde, was er am ersten vernommen?
Oder weiß er ein Andres zum Wohl des Landes zu rathen?
Bieder scheinet er mir und segenswürdig! Ihm laße
Zeus das Gute gedeihn, so er im Herzen gedenket!

Sprachs'; und Tälemachos, froh der heilweißagenden Worte, 35
Saß nicht länger; er trat, mit heißer Begierde zu reden,
In die Mitte des Volks. Den Zepter reichte Peisänor
Ihm in die Hand, der Herold, mit weisem Rathe begabet.
Und er wandte zuerst sich gegen den Alten, und sagte:

Edler Greis, nicht fern ist der Mann, gleich sollst du ihn kennen: 40
Ich versammelte euch; mich drückt am meisten der Kummer!
Keine Botschaft hört' ich von einem nahenden Kriegsheer,
Daß ich euch allen verkünde, was ich am ersten vernommen;
Auch nichts anderes weiß ich zum Wohl des Landes zu rathen:
Sondern ich rede von mir, von meines eigenen Hauses 45
Zwiefacher Noth. Zuerst verlor ich den guten Vater,
Euren König, der euch mit Vaterliebe beherschte.
Und nun leid' ich noch mehr: mein ganzes Haus ist vielleicht bald

Oduͤßee.
Noch drei andere hatt' er: der eine, Euruͤnomos, lebte
Unter den Freiern, und zween beſorgten des Vaters Geſchaͤfte;
Dennoch bejammert' er ſtets des verlorenen Sohnes Gedaͤchtniß.
Thraͤnend begann der Greis, und redete vor der Verſammlung:

Hoͤret mich jezt, ihr Maͤnner von Ithaka, was ich euch ſage! 25
Keine Verſammlung ward und keine Sizung gehalten,
Seit der edle Oduͤßeus die Schiffe gen Troja gefuͤhrt hat.
Wer hat uns denn heute verſammelt? Welcher der Alten
Oder der Juͤnglinge hier? Und welche Sache bewog ihn?
Hoͤret' er etwa Botſchaft von einem nahenden Kriegsheer, 30
Daß er uns allen verkuͤnde, was er am erſten vernommen?
Oder weiß er ein Andres zum Wohl des Landes zu rathen?
Bieder ſcheinet er mir und ſegenswuͤrdig! Ihm laße
Zeus das Gute gedeihn, ſo er im Herzen gedenket!

Sprachs'; und Taͤlemachos, froh der heilweißagenden Worte, 35
Saß nicht laͤnger; er trat, mit heißer Begierde zu reden,
In die Mitte des Volks. Den Zepter reichte Peiſaͤnor
Ihm in die Hand, der Herold, mit weiſem Rathe begabet.
Und er wandte zuerſt ſich gegen den Alten, und ſagte:

Edler Greis, nicht fern iſt der Mann, gleich ſollſt du ihn kennen: 40
Ich verſammelte euch; mich druͤckt am meiſten der Kummer!
Keine Botſchaft hoͤrt' ich von einem nahenden Kriegsheer,
Daß ich euch allen verkuͤnde, was ich am erſten vernommen;
Auch nichts anderes weiß ich zum Wohl des Landes zu rathen:
Sondern ich rede von mir, von meines eigenen Hauſes 45
Zwiefacher Noth. Zuerſt verlor ich den guten Vater,
Euren Koͤnig, der euch mit Vaterliebe beherſchte.
Und nun leid' ich noch mehr: mein ganzes Haus iſt vielleicht bald

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0034" n="28"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Odu&#x0364;ßee.</hi></fw><lb/>
Noch drei andere hatt' er: der eine, Euru&#x0364;nomos, lebte<lb/>
Unter den Freiern, und zween be&#x017F;orgten des Vaters Ge&#x017F;cha&#x0364;fte;<lb/>
Dennoch bejammert' er &#x017F;tets des verlorenen Sohnes Geda&#x0364;chtniß.<lb/>
Thra&#x0364;nend begann der Greis, und redete vor der Ver&#x017F;ammlung:</p><lb/>
        <p>Ho&#x0364;ret mich jezt, ihr Ma&#x0364;nner von Ithaka, was ich euch &#x017F;age! <note place="right">25</note><lb/>
Keine Ver&#x017F;ammlung ward und keine Sizung gehalten,<lb/>
Seit der edle Odu&#x0364;ßeus die Schiffe gen Troja gefu&#x0364;hrt hat.<lb/>
Wer hat uns denn heute ver&#x017F;ammelt? Welcher der Alten<lb/>
Oder der Ju&#x0364;nglinge hier? Und welche Sache bewog ihn?<lb/>
Ho&#x0364;ret' er etwa Bot&#x017F;chaft von einem nahenden Kriegsheer, <note place="right">30</note><lb/>
Daß er uns allen verku&#x0364;nde, was er am er&#x017F;ten vernommen?<lb/>
Oder weiß er ein Andres zum Wohl des Landes zu rathen?<lb/>
Bieder &#x017F;cheinet er mir und &#x017F;egenswu&#x0364;rdig! Ihm laße<lb/>
Zeus das Gute gedeihn, &#x017F;o er im Herzen gedenket!</p><lb/>
        <p>Sprachs'; und Ta&#x0364;lemachos, froh der heilweißagenden Worte, <note place="right">35</note><lb/>
Saß nicht la&#x0364;nger; er trat, mit heißer Begierde zu reden,<lb/>
In die Mitte des Volks. Den Zepter reichte Pei&#x017F;a&#x0364;nor<lb/>
Ihm in die Hand, der Herold, mit wei&#x017F;em Rathe begabet.<lb/>
Und er wandte zuer&#x017F;t &#x017F;ich gegen den Alten, und &#x017F;agte:</p><lb/>
        <p>Edler Greis, nicht fern i&#x017F;t der Mann, gleich &#x017F;oll&#x017F;t du ihn kennen: <note place="right">40</note><lb/>
Ich ver&#x017F;ammelte euch; mich dru&#x0364;ckt am mei&#x017F;ten der Kummer!<lb/>
Keine Bot&#x017F;chaft ho&#x0364;rt' ich von einem nahenden Kriegsheer,<lb/>
Daß ich euch allen verku&#x0364;nde, was ich am er&#x017F;ten vernommen;<lb/>
Auch nichts anderes weiß ich zum Wohl des Landes zu rathen:<lb/>
Sondern ich rede von mir, von meines eigenen Hau&#x017F;es <note place="right">45</note><lb/>
Zwiefacher Noth. Zuer&#x017F;t verlor ich den guten Vater,<lb/>
Euren Ko&#x0364;nig, der euch mit Vaterliebe beher&#x017F;chte.<lb/>
Und nun leid' ich noch mehr: mein ganzes Haus i&#x017F;t vielleicht bald<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[28/0034] Oduͤßee. Noch drei andere hatt' er: der eine, Euruͤnomos, lebte Unter den Freiern, und zween beſorgten des Vaters Geſchaͤfte; Dennoch bejammert' er ſtets des verlorenen Sohnes Gedaͤchtniß. Thraͤnend begann der Greis, und redete vor der Verſammlung: Hoͤret mich jezt, ihr Maͤnner von Ithaka, was ich euch ſage! Keine Verſammlung ward und keine Sizung gehalten, Seit der edle Oduͤßeus die Schiffe gen Troja gefuͤhrt hat. Wer hat uns denn heute verſammelt? Welcher der Alten Oder der Juͤnglinge hier? Und welche Sache bewog ihn? Hoͤret' er etwa Botſchaft von einem nahenden Kriegsheer, Daß er uns allen verkuͤnde, was er am erſten vernommen? Oder weiß er ein Andres zum Wohl des Landes zu rathen? Bieder ſcheinet er mir und ſegenswuͤrdig! Ihm laße Zeus das Gute gedeihn, ſo er im Herzen gedenket! 25 30 Sprachs'; und Taͤlemachos, froh der heilweißagenden Worte, Saß nicht laͤnger; er trat, mit heißer Begierde zu reden, In die Mitte des Volks. Den Zepter reichte Peiſaͤnor Ihm in die Hand, der Herold, mit weiſem Rathe begabet. Und er wandte zuerſt ſich gegen den Alten, und ſagte: 35 Edler Greis, nicht fern iſt der Mann, gleich ſollſt du ihn kennen: Ich verſammelte euch; mich druͤckt am meiſten der Kummer! Keine Botſchaft hoͤrt' ich von einem nahenden Kriegsheer, Daß ich euch allen verkuͤnde, was ich am erſten vernommen; Auch nichts anderes weiß ich zum Wohl des Landes zu rathen: Sondern ich rede von mir, von meines eigenen Hauſes Zwiefacher Noth. Zuerſt verlor ich den guten Vater, Euren Koͤnig, der euch mit Vaterliebe beherſchte. Und nun leid' ich noch mehr: mein ganzes Haus iſt vielleicht bald 40 45

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/34
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/34>, abgerufen am 25.04.2024.