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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

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Sechzehnter Gesang.
Und Geschenke von köstlichem Gold! Erbarme dich unser! 185

Ihm antwortete drauf der herliche Dulder Odüßeus:
Wahrlich ich bin kein Gott, und keinem Unsterblichen ähnlich;
Sondern ich bin dein Vater, um den du so herzlich dich grämest,
Und so viele Schmach von trozigen Männern erduldest.

Also sprach er, und küßte den Sohn; und über die Wange 190
Stürzten die Thränen zur Erde, die lange verhaltenen Thränen.

Aber Tälemachos stand noch staunend, und konnte nicht glauben,
Daß es sein Vater sei; und nun antwortet' er also:

Nein! du bist nicht mein Vater Odüßeus; sondern ein Dämon
Teuscht mich, daß ich noch mehr mein großes Elend beseufze. 195
Denn kein sterblicher Mann vermöchte mit seinem Verstande,
Solch ein Wunder zu thun; ihm hülfe denn einer der Götter,
Welcher leicht, wie er will, zu Greisen und Jünglingen umschafft!
Siehe nur eben warst du ein Greis, und häßlich bekleidet;
Jezo den Göttern gleich, die den weiten Himmel bewohnen! 200

Ihm antwortete drauf der erfindungsreiche Odüßeus!
Deinen geliebten Vater, Tälemachos, welcher nun heimkehrt,
Mußt du nicht alzusehr anstaunen oder bewundern!
Wahrlich in Ithaka kommt hinfort kein andrer Odüßeus,
Sondern ich bin der Mann, der nach vielem Jammer und Elend 205
Endlich im zwanzigsten Jahr' in seine Heimat zurückkehrt.
Aber dies ist das Werk der siegenden Göttin Athänä,
Welche mich, wie sie will, verwandelt; denn sie vermag es!
Darum erschein' ich jezo zerlumpt wie ein Bettler, und jezo
Wieder in Jünglingsgestalt, mit schönen Gewanden bekleidet. 210
Denn leicht können die Götter, des weiten Himmels Bewohner,
Jeden sterblichen Mann erniedrigen oder erhöhen.

Sechzehnter Geſang.
Und Geſchenke von koͤſtlichem Gold! Erbarme dich unſer! 185

Ihm antwortete drauf der herliche Dulder Oduͤßeus:
Wahrlich ich bin kein Gott, und keinem Unſterblichen aͤhnlich;
Sondern ich bin dein Vater, um den du ſo herzlich dich graͤmeſt,
Und ſo viele Schmach von trozigen Maͤnnern erduldeſt.

Alſo ſprach er, und kuͤßte den Sohn; und uͤber die Wange 190
Stuͤrzten die Thraͤnen zur Erde, die lange verhaltenen Thraͤnen.

Aber Taͤlemachos ſtand noch ſtaunend, und konnte nicht glauben,
Daß es ſein Vater ſei; und nun antwortet' er alſo:

Nein! du biſt nicht mein Vater Oduͤßeus; ſondern ein Daͤmon
Teuſcht mich, daß ich noch mehr mein großes Elend beſeufze. 195
Denn kein ſterblicher Mann vermoͤchte mit ſeinem Verſtande,
Solch ein Wunder zu thun; ihm huͤlfe denn einer der Goͤtter,
Welcher leicht, wie er will, zu Greiſen und Juͤnglingen umſchafft!
Siehe nur eben warſt du ein Greis, und haͤßlich bekleidet;
Jezo den Goͤttern gleich, die den weiten Himmel bewohnen! 200

Ihm antwortete drauf der erfindungsreiche Oduͤßeus!
Deinen geliebten Vater, Taͤlemachos, welcher nun heimkehrt,
Mußt du nicht alzuſehr anſtaunen oder bewundern!
Wahrlich in Ithaka kommt hinfort kein andrer Oduͤßeus,
Sondern ich bin der Mann, der nach vielem Jammer und Elend 205
Endlich im zwanzigſten Jahr' in ſeine Heimat zuruͤckkehrt.
Aber dies iſt das Werk der ſiegenden Goͤttin Athaͤnaͤ,
Welche mich, wie ſie will, verwandelt; denn ſie vermag es!
Darum erſchein' ich jezo zerlumpt wie ein Bettler, und jezo
Wieder in Juͤnglingsgeſtalt, mit ſchoͤnen Gewanden bekleidet. 210
Denn leicht koͤnnen die Goͤtter, des weiten Himmels Bewohner,
Jeden ſterblichen Mann erniedrigen oder erhoͤhen.

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[311/0317] Sechzehnter Geſang. Und Geſchenke von koͤſtlichem Gold! Erbarme dich unſer! 185 Ihm antwortete drauf der herliche Dulder Oduͤßeus: Wahrlich ich bin kein Gott, und keinem Unſterblichen aͤhnlich; Sondern ich bin dein Vater, um den du ſo herzlich dich graͤmeſt, Und ſo viele Schmach von trozigen Maͤnnern erduldeſt. Alſo ſprach er, und kuͤßte den Sohn; und uͤber die Wange Stuͤrzten die Thraͤnen zur Erde, die lange verhaltenen Thraͤnen. 190 Aber Taͤlemachos ſtand noch ſtaunend, und konnte nicht glauben, Daß es ſein Vater ſei; und nun antwortet' er alſo: Nein! du biſt nicht mein Vater Oduͤßeus; ſondern ein Daͤmon Teuſcht mich, daß ich noch mehr mein großes Elend beſeufze. Denn kein ſterblicher Mann vermoͤchte mit ſeinem Verſtande, Solch ein Wunder zu thun; ihm huͤlfe denn einer der Goͤtter, Welcher leicht, wie er will, zu Greiſen und Juͤnglingen umſchafft! Siehe nur eben warſt du ein Greis, und haͤßlich bekleidet; Jezo den Goͤttern gleich, die den weiten Himmel bewohnen! 195 200 Ihm antwortete drauf der erfindungsreiche Oduͤßeus! Deinen geliebten Vater, Taͤlemachos, welcher nun heimkehrt, Mußt du nicht alzuſehr anſtaunen oder bewundern! Wahrlich in Ithaka kommt hinfort kein andrer Oduͤßeus, Sondern ich bin der Mann, der nach vielem Jammer und Elend Endlich im zwanzigſten Jahr' in ſeine Heimat zuruͤckkehrt. Aber dies iſt das Werk der ſiegenden Goͤttin Athaͤnaͤ, Welche mich, wie ſie will, verwandelt; denn ſie vermag es! Darum erſchein' ich jezo zerlumpt wie ein Bettler, und jezo Wieder in Juͤnglingsgeſtalt, mit ſchoͤnen Gewanden bekleidet. Denn leicht koͤnnen die Goͤtter, des weiten Himmels Bewohner, Jeden ſterblichen Mann erniedrigen oder erhoͤhen. 205 210

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Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/317>, abgerufen am 24.11.2024.