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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

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Erster Gesang.
Jenes Mannes, der weit durch Hellas und Argos berühmt ist! V. 344.

Und der verständige Jüngling Tälemachos sagte dagegen: 345
Meine Mutter, warum verargst du dem lieblichen Sänger,
Daß er mit Liedern uns reizt, wie sie dem Herzen entströmen?
Nicht die Sänger sind des zu beschuldigen, sondern allein Zeus,
Welcher die Meister der Kunst nach seinem Gefallen begeistert.
Zürne denn nicht, weil dieser die Leiden der Danaer singet; 350
Denn der neuste Gesang erhält vor allen Gesängen
Immer das lauteste Lob der aufmerksamen Versammlung:
Sondern stärke vielmehr auch deine Seele, zu hören.
Nicht Odüßeus allein verlor den Tag der Zurückkunft
Unter den Troern; es sanken mit ihm viel andere Männer. 355
Aber gehe nun heim, besorge deine Geschäfte,
Spindel und Webestuhl, und treib an beschiedener Arbeit
Deine Mägde zum Fleiß! Die Rede gebühret den Männern,
Und vor allen mir; denn mein ist die Herschaft im Hause!

Staunend kehrte die Mutter zurück in ihre Gemächer, 360
Und erwog im Herzen die kluge Rede des Sohnes.
Als sie nun oben kam mit den Jungfraun, weinte sie wieder
Ihren trauten Gemahl Odüßeus; bis ihr Athänä
Sanft mit süßem Schlummer die Augenlieder bethaute.

Aber nun lärmten die Freier umher in dem schattichten Saale, 365
Denn sie wünschten sich alle, mit ihr das Bette zu theilen.
Und der verständige Jüngling Tälemachos sprach zur Versammlung:

Freier meiner Mutter, voll übermütiges Trozes,

V. 344. Hellas, eine Stadt in Theßalien, hier das ganze nördliche Grie-
chenland; Argos, eine Stadt im Peloponnes, hier die ganze Halbinsel.

Erſter Geſang.
Jenes Mannes, der weit durch Hellas und Argos beruͤhmt iſt! V. 344.

Und der verſtaͤndige Juͤngling Taͤlemachos ſagte dagegen: 345
Meine Mutter, warum verargſt du dem lieblichen Saͤnger,
Daß er mit Liedern uns reizt, wie ſie dem Herzen entſtroͤmen?
Nicht die Saͤnger ſind des zu beſchuldigen, ſondern allein Zeus,
Welcher die Meiſter der Kunſt nach ſeinem Gefallen begeiſtert.
Zuͤrne denn nicht, weil dieſer die Leiden der Danaer ſinget; 350
Denn der neuſte Geſang erhaͤlt vor allen Geſaͤngen
Immer das lauteſte Lob der aufmerkſamen Verſammlung:
Sondern ſtaͤrke vielmehr auch deine Seele, zu hoͤren.
Nicht Oduͤßeus allein verlor den Tag der Zuruͤckkunft
Unter den Troern; es ſanken mit ihm viel andere Maͤnner. 355
Aber gehe nun heim, beſorge deine Geſchaͤfte,
Spindel und Webeſtuhl, und treib an beſchiedener Arbeit
Deine Maͤgde zum Fleiß! Die Rede gebuͤhret den Maͤnnern,
Und vor allen mir; denn mein iſt die Herſchaft im Hauſe!

Staunend kehrte die Mutter zuruͤck in ihre Gemaͤcher, 360
Und erwog im Herzen die kluge Rede des Sohnes.
Als ſie nun oben kam mit den Jungfraun, weinte ſie wieder
Ihren trauten Gemahl Oduͤßeus; bis ihr Athaͤnaͤ
Sanft mit ſuͤßem Schlummer die Augenlieder bethaute.

Aber nun laͤrmten die Freier umher in dem ſchattichten Saale, 365
Denn ſie wuͤnſchten ſich alle, mit ihr das Bette zu theilen.
Und der verſtaͤndige Juͤngling Taͤlemachos ſprach zur Verſammlung:

Freier meiner Mutter, voll uͤbermuͤtiges Trozes,

V. 344. Hellas, eine Stadt in Theßalien, hier das ganze noͤrdliche Grie-
chenland; Argos, eine Stadt im Peloponnes, hier die ganze Halbinſel.
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[23/0029] Erſter Geſang. Jenes Mannes, der weit durch Hellas und Argos beruͤhmt iſt! V. 344. Und der verſtaͤndige Juͤngling Taͤlemachos ſagte dagegen: Meine Mutter, warum verargſt du dem lieblichen Saͤnger, Daß er mit Liedern uns reizt, wie ſie dem Herzen entſtroͤmen? Nicht die Saͤnger ſind des zu beſchuldigen, ſondern allein Zeus, Welcher die Meiſter der Kunſt nach ſeinem Gefallen begeiſtert. Zuͤrne denn nicht, weil dieſer die Leiden der Danaer ſinget; Denn der neuſte Geſang erhaͤlt vor allen Geſaͤngen Immer das lauteſte Lob der aufmerkſamen Verſammlung: Sondern ſtaͤrke vielmehr auch deine Seele, zu hoͤren. Nicht Oduͤßeus allein verlor den Tag der Zuruͤckkunft Unter den Troern; es ſanken mit ihm viel andere Maͤnner. Aber gehe nun heim, beſorge deine Geſchaͤfte, Spindel und Webeſtuhl, und treib an beſchiedener Arbeit Deine Maͤgde zum Fleiß! Die Rede gebuͤhret den Maͤnnern, Und vor allen mir; denn mein iſt die Herſchaft im Hauſe! 345 350 355 Staunend kehrte die Mutter zuruͤck in ihre Gemaͤcher, Und erwog im Herzen die kluge Rede des Sohnes. Als ſie nun oben kam mit den Jungfraun, weinte ſie wieder Ihren trauten Gemahl Oduͤßeus; bis ihr Athaͤnaͤ Sanft mit ſuͤßem Schlummer die Augenlieder bethaute. 360 Aber nun laͤrmten die Freier umher in dem ſchattichten Saale, Denn ſie wuͤnſchten ſich alle, mit ihr das Bette zu theilen. Und der verſtaͤndige Juͤngling Taͤlemachos ſprach zur Verſammlung: 365 Freier meiner Mutter, voll uͤbermuͤtiges Trozes, V. 344. Hellas, eine Stadt in Theßalien, hier das ganze noͤrdliche Grie- chenland; Argos, eine Stadt im Peloponnes, hier die ganze Halbinſel.

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Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/29>, abgerufen am 27.04.2024.