Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Odüßee.
Und der Traurenden Antliz umfließen Thränen der Wehmut,
Wie es dem Weibe geziemt, der fern ihr Gatte verschieden. 130
Und bald würdest auch du, o Greis, Mährchen ersinnen,
Deckte dir jemand nur die Blöße mit Mantel und Leibrock.
Aber ihm rißen vielleicht die Hund' und die Vögel des Himmels
Schon die Haut von dem weißen Gebein, und die Seele verließ es;
Oder ihn fraßen die Fische des Meers, und seine Gebeine 135
Dorren an fremdem Gestade, vom wehenden Sande bedecket.
Also verlor er das Leben, und seine verlaßenen Freunde
Klagen ihm alle nach, und ich am meisten; denn nimmer
Find' ich einen so gütigen Herrn, wohin ich auch gehe;
Käm' ich auch wieder ins Haus, das Vater und Mutter bewohnen, 140
Wo ich geboren ward, und meine Jugend verlebte.
Auch bewein' ich die Eltern nicht so sehr, da ich doch herzlich
Wünsche, sie wieder zu sehn und meiner Väter Gefilde;
Als Odüßeus Verlust mein ganzes Leben verbittert!
Ja ich schäme mich, Fremdling, ihn bloß beim Namen zu nennen, 145
Ob er es zwar nicht hört; denn er pflegte mich gar zu liebreich!
Sondern ich nenn' ihn, auch fern, stets meinen älteren Bruder.

Ihm antwortete drauf der herliche Dulder Odüßeus:
Lieber, weil du es denn ganz leugnest, und nimmer vermutest,
Daß er zur Heimat kehrt, und stets ungläubig dein Herz bleibt; 150
Siehe, so will ich es nicht bloß sagen, sondern beschwören:
Daß Odüßeus kömmt! Zum Lohn für die fröhliche Botschaft
Sollst du sogleich, wann jener in seine Wohnung zurückkommt,
Mich mit schönen Gewanden, mit Rock und Mantel, bekleiden.
Eher, wie sehr ich auch jezo entblößt bin, nähm' ich sie nimmer! 155
Denn der ist mir verhaßt, wie die Pforten der untersten Tiefe,

Oduͤßee.
Und der Traurenden Antliz umfließen Thraͤnen der Wehmut,
Wie es dem Weibe geziemt, der fern ihr Gatte verſchieden. 130
Und bald wuͤrdeſt auch du, o Greis, Maͤhrchen erſinnen,
Deckte dir jemand nur die Bloͤße mit Mantel und Leibrock.
Aber ihm rißen vielleicht die Hund' und die Voͤgel des Himmels
Schon die Haut von dem weißen Gebein, und die Seele verließ es;
Oder ihn fraßen die Fiſche des Meers, und ſeine Gebeine 135
Dorren an fremdem Geſtade, vom wehenden Sande bedecket.
Alſo verlor er das Leben, und ſeine verlaßenen Freunde
Klagen ihm alle nach, und ich am meiſten; denn nimmer
Find' ich einen ſo guͤtigen Herrn, wohin ich auch gehe;
Kaͤm' ich auch wieder ins Haus, das Vater und Mutter bewohnen, 140
Wo ich geboren ward, und meine Jugend verlebte.
Auch bewein' ich die Eltern nicht ſo ſehr, da ich doch herzlich
Wuͤnſche, ſie wieder zu ſehn und meiner Vaͤter Gefilde;
Als Oduͤßeus Verluſt mein ganzes Leben verbittert!
Ja ich ſchaͤme mich, Fremdling, ihn bloß beim Namen zu nennen, 145
Ob er es zwar nicht hoͤrt; denn er pflegte mich gar zu liebreich!
Sondern ich nenn' ihn, auch fern, ſtets meinen aͤlteren Bruder.

Ihm antwortete drauf der herliche Dulder Oduͤßeus:
Lieber, weil du es denn ganz leugneſt, und nimmer vermuteſt,
Daß er zur Heimat kehrt, und ſtets unglaͤubig dein Herz bleibt; 150
Siehe, ſo will ich es nicht bloß ſagen, ſondern beſchwoͤren:
Daß Oduͤßeus koͤmmt! Zum Lohn fuͤr die froͤhliche Botſchaft
Sollſt du ſogleich, wann jener in ſeine Wohnung zuruͤckkommt,
Mich mit ſchoͤnen Gewanden, mit Rock und Mantel, bekleiden.
Eher, wie ſehr ich auch jezo entbloͤßt bin, naͤhm' ich ſie nimmer! 155
Denn der iſt mir verhaßt, wie die Pforten der unterſten Tiefe,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0274" n="268"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Odu&#x0364;ßee.</hi></fw><lb/>
Und der Traurenden Antliz umfließen Thra&#x0364;nen der Wehmut,<lb/>
Wie es dem Weibe geziemt, der fern ihr Gatte ver&#x017F;chieden. <note place="right">130</note><lb/>
Und bald wu&#x0364;rde&#x017F;t auch du, o Greis, Ma&#x0364;hrchen er&#x017F;innen,<lb/>
Deckte dir jemand nur die Blo&#x0364;ße mit Mantel und Leibrock.<lb/>
Aber ihm rißen vielleicht die Hund' und die Vo&#x0364;gel des Himmels<lb/>
Schon die Haut von dem weißen Gebein, und die Seele verließ es;<lb/>
Oder ihn fraßen die Fi&#x017F;che des Meers, und &#x017F;eine Gebeine <note place="right">135</note><lb/>
Dorren an fremdem Ge&#x017F;tade, vom wehenden Sande bedecket.<lb/>
Al&#x017F;o verlor er das Leben, und &#x017F;eine verlaßenen Freunde<lb/>
Klagen ihm alle nach, und ich am mei&#x017F;ten; denn nimmer<lb/>
Find' ich einen &#x017F;o gu&#x0364;tigen Herrn, wohin ich auch gehe;<lb/>
Ka&#x0364;m' ich auch wieder ins Haus, das Vater und Mutter bewohnen, <note place="right">140</note><lb/>
Wo ich geboren ward, und meine Jugend verlebte.<lb/>
Auch bewein' ich die Eltern nicht &#x017F;o &#x017F;ehr, da ich doch herzlich<lb/>
Wu&#x0364;n&#x017F;che, &#x017F;ie wieder zu &#x017F;ehn und meiner Va&#x0364;ter Gefilde;<lb/>
Als Odu&#x0364;ßeus Verlu&#x017F;t mein ganzes Leben verbittert!<lb/>
Ja ich &#x017F;cha&#x0364;me mich, Fremdling, ihn bloß beim Namen zu nennen, <note place="right">145</note><lb/>
Ob er es zwar nicht ho&#x0364;rt; denn er pflegte mich gar zu liebreich!<lb/>
Sondern ich nenn' ihn, auch fern, &#x017F;tets meinen a&#x0364;lteren Bruder.</p><lb/>
        <p>Ihm antwortete drauf der herliche Dulder Odu&#x0364;ßeus:<lb/>
Lieber, weil du es denn ganz leugne&#x017F;t, und nimmer vermute&#x017F;t,<lb/>
Daß er zur Heimat kehrt, und &#x017F;tets ungla&#x0364;ubig dein Herz bleibt; <note place="right">150</note><lb/>
Siehe, &#x017F;o will ich es nicht bloß &#x017F;agen, &#x017F;ondern be&#x017F;chwo&#x0364;ren:<lb/>
Daß Odu&#x0364;ßeus ko&#x0364;mmt! Zum Lohn fu&#x0364;r die fro&#x0364;hliche Bot&#x017F;chaft<lb/>
Soll&#x017F;t du &#x017F;ogleich, wann jener in &#x017F;eine Wohnung zuru&#x0364;ckkommt,<lb/>
Mich mit &#x017F;cho&#x0364;nen Gewanden, mit Rock und Mantel, bekleiden.<lb/>
Eher, wie &#x017F;ehr ich auch jezo entblo&#x0364;ßt bin, na&#x0364;hm' ich &#x017F;ie nimmer! <note place="right">155</note><lb/>
Denn der i&#x017F;t mir verhaßt, wie die Pforten der unter&#x017F;ten Tiefe,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[268/0274] Oduͤßee. Und der Traurenden Antliz umfließen Thraͤnen der Wehmut, Wie es dem Weibe geziemt, der fern ihr Gatte verſchieden. Und bald wuͤrdeſt auch du, o Greis, Maͤhrchen erſinnen, Deckte dir jemand nur die Bloͤße mit Mantel und Leibrock. Aber ihm rißen vielleicht die Hund' und die Voͤgel des Himmels Schon die Haut von dem weißen Gebein, und die Seele verließ es; Oder ihn fraßen die Fiſche des Meers, und ſeine Gebeine Dorren an fremdem Geſtade, vom wehenden Sande bedecket. Alſo verlor er das Leben, und ſeine verlaßenen Freunde Klagen ihm alle nach, und ich am meiſten; denn nimmer Find' ich einen ſo guͤtigen Herrn, wohin ich auch gehe; Kaͤm' ich auch wieder ins Haus, das Vater und Mutter bewohnen, Wo ich geboren ward, und meine Jugend verlebte. Auch bewein' ich die Eltern nicht ſo ſehr, da ich doch herzlich Wuͤnſche, ſie wieder zu ſehn und meiner Vaͤter Gefilde; Als Oduͤßeus Verluſt mein ganzes Leben verbittert! Ja ich ſchaͤme mich, Fremdling, ihn bloß beim Namen zu nennen, Ob er es zwar nicht hoͤrt; denn er pflegte mich gar zu liebreich! Sondern ich nenn' ihn, auch fern, ſtets meinen aͤlteren Bruder. 130 135 140 145 Ihm antwortete drauf der herliche Dulder Oduͤßeus: Lieber, weil du es denn ganz leugneſt, und nimmer vermuteſt, Daß er zur Heimat kehrt, und ſtets unglaͤubig dein Herz bleibt; Siehe, ſo will ich es nicht bloß ſagen, ſondern beſchwoͤren: Daß Oduͤßeus koͤmmt! Zum Lohn fuͤr die froͤhliche Botſchaft Sollſt du ſogleich, wann jener in ſeine Wohnung zuruͤckkommt, Mich mit ſchoͤnen Gewanden, mit Rock und Mantel, bekleiden. Eher, wie ſehr ich auch jezo entbloͤßt bin, naͤhm' ich ſie nimmer! Denn der iſt mir verhaßt, wie die Pforten der unterſten Tiefe, 150 155

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/274
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/274>, abgerufen am 18.05.2024.