Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Zehnter Gesang.
Wie viel Silber und Gold in diesem Schlauche doch stecke. 45

Also sprach man. Es siegte der böse Rath der Genoßen;
Und sie lösten den Schlauch, und mit Einmal entsausten die Winde.
Plözlich ergriff sie der Sturm, und schleuderte weit in das Weltmeer
Hin die Weinenden, ferne vom Vaterlande. Da fuhr ich
Schnell aus dem Schlaf, und erwog in meiner unsträflichen Seele; 50
Ob ich vom Schiffe hinab in die tobenden Wogen mich stürzte,
Oder es schweigend erduldet', und noch bei den Lebenden bliebe;
Aber ich duldet' und blieb, und lag mit verhülletem Antliz
Auf dem Verdeck; und es warf der Orkan lautbrausend die Schiffe
Nach der aiolischen Insel zurück; es seufzten die Männer. 55

Alda stiegen wir aus an den Strand, und schöpften uns Waßer.
Schnell bereiteten uns die Gefährten ein Mahl bei den Schiffen.
Und sobald wir das Herz mit Trank und Speise gestärket,
Eilt' ich, von unserem Herold' und einem Gefährten begleitet,
Zu der herlichen Burg des Aiolos. Diesen erblickt' ich 60
Sizend mit seinem Weib' und seinen Kindern beim Schmause.
Und wir gingen ins Haus, und sezten uns neben den Pfosten
Auf die Schwelle dahin; sie erschracken im Herzen, und fragten:

Siehe woher, Odüßeus? Welch böser Dämon verfolgt dich?
Haben wir doch die Fahrt so sorgsam gefördert, damit du 65
Heim in dein Vaterland, und wohin dirs beliebte, gelangtest!

Also sprach man; und ich antwortete, trauriges Herzens:
Meine bösen Gefährten, die sind mein Verderben, mit diesen
Ein unseliger Schlaf! Ach helft mir, Freunde! Ihr könnt es.

Also wollt' ich sie mir mit schmeichelnden Worten gewinnen. 70
Aber sie schwiegen still; der Vater gab mir zur Antwort:

Hebe dich eilig hinweg von der Insel, du Aergster der Menschen!

Zehnter Geſang.
Wie viel Silber und Gold in dieſem Schlauche doch ſtecke. 45

Alſo ſprach man. Es ſiegte der boͤſe Rath der Genoßen;
Und ſie loͤſten den Schlauch, und mit Einmal entſauſten die Winde.
Ploͤzlich ergriff ſie der Sturm, und ſchleuderte weit in das Weltmeer
Hin die Weinenden, ferne vom Vaterlande. Da fuhr ich
Schnell aus dem Schlaf, und erwog in meiner unſtraͤflichen Seele; 50
Ob ich vom Schiffe hinab in die tobenden Wogen mich ſtuͤrzte,
Oder es ſchweigend erduldet', und noch bei den Lebenden bliebe;
Aber ich duldet' und blieb, und lag mit verhuͤlletem Antliz
Auf dem Verdeck; und es warf der Orkan lautbrauſend die Schiffe
Nach der aioliſchen Inſel zuruͤck; es ſeufzten die Maͤnner. 55

Alda ſtiegen wir aus an den Strand, und ſchoͤpften uns Waßer.
Schnell bereiteten uns die Gefaͤhrten ein Mahl bei den Schiffen.
Und ſobald wir das Herz mit Trank und Speiſe geſtaͤrket,
Eilt' ich, von unſerem Herold' und einem Gefaͤhrten begleitet,
Zu der herlichen Burg des Aiolos. Dieſen erblickt' ich 60
Sizend mit ſeinem Weib' und ſeinen Kindern beim Schmauſe.
Und wir gingen ins Haus, und ſezten uns neben den Pfoſten
Auf die Schwelle dahin; ſie erſchracken im Herzen, und fragten:

Siehe woher, Oduͤßeus? Welch boͤſer Daͤmon verfolgt dich?
Haben wir doch die Fahrt ſo ſorgſam gefoͤrdert, damit du 65
Heim in dein Vaterland, und wohin dirs beliebte, gelangteſt!

Alſo ſprach man; und ich antwortete, trauriges Herzens:
Meine boͤſen Gefaͤhrten, die ſind mein Verderben, mit dieſen
Ein unſeliger Schlaf! Ach helft mir, Freunde! Ihr koͤnnt es.

Alſo wollt' ich ſie mir mit ſchmeichelnden Worten gewinnen. 70
Aber ſie ſchwiegen ſtill; der Vater gab mir zur Antwort:

Hebe dich eilig hinweg von der Inſel, du Aergſter der Menſchen!

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0191" n="185"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zehnter Ge&#x017F;ang.</hi></fw><lb/>
Wie viel Silber und Gold in die&#x017F;em Schlauche doch &#x017F;tecke. <note place="right">45</note></p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach man. Es &#x017F;iegte der bo&#x0364;&#x017F;e Rath der Genoßen;<lb/>
Und &#x017F;ie lo&#x0364;&#x017F;ten den Schlauch, und mit Einmal ent&#x017F;au&#x017F;ten die Winde.<lb/>
Plo&#x0364;zlich ergriff &#x017F;ie der Sturm, und &#x017F;chleuderte weit in das Weltmeer<lb/>
Hin die Weinenden, ferne vom Vaterlande. Da fuhr ich<lb/>
Schnell aus dem Schlaf, und erwog in meiner un&#x017F;tra&#x0364;flichen Seele; <note place="right">50</note><lb/>
Ob ich vom Schiffe hinab in die tobenden Wogen mich &#x017F;tu&#x0364;rzte,<lb/>
Oder es &#x017F;chweigend erduldet', und noch bei den Lebenden bliebe;<lb/>
Aber ich duldet' und blieb, und lag mit verhu&#x0364;lletem Antliz<lb/>
Auf dem Verdeck; und es warf der Orkan lautbrau&#x017F;end die Schiffe<lb/>
Nach der aioli&#x017F;chen In&#x017F;el zuru&#x0364;ck; es &#x017F;eufzten die Ma&#x0364;nner. <note place="right">55</note></p><lb/>
        <p>Alda &#x017F;tiegen wir aus an den Strand, und &#x017F;cho&#x0364;pften uns Waßer.<lb/>
Schnell bereiteten uns die Gefa&#x0364;hrten ein Mahl bei den Schiffen.<lb/>
Und &#x017F;obald wir das Herz mit Trank und Spei&#x017F;e ge&#x017F;ta&#x0364;rket,<lb/>
Eilt' ich, von un&#x017F;erem Herold' und einem Gefa&#x0364;hrten begleitet,<lb/>
Zu der herlichen Burg des Aiolos. Die&#x017F;en erblickt' ich <note place="right">60</note><lb/>
Sizend mit &#x017F;einem Weib' und &#x017F;einen Kindern beim Schmau&#x017F;e.<lb/>
Und wir gingen ins Haus, und &#x017F;ezten uns neben den Pfo&#x017F;ten<lb/>
Auf die Schwelle dahin; &#x017F;ie er&#x017F;chracken im Herzen, und fragten:</p><lb/>
        <p>Siehe woher, Odu&#x0364;ßeus? Welch bo&#x0364;&#x017F;er Da&#x0364;mon verfolgt dich?<lb/>
Haben wir doch die Fahrt &#x017F;o &#x017F;org&#x017F;am gefo&#x0364;rdert, damit du <note place="right">65</note><lb/>
Heim in dein Vaterland, und wohin dirs beliebte, gelangte&#x017F;t!</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach man; und ich antwortete, trauriges Herzens:<lb/>
Meine bo&#x0364;&#x017F;en Gefa&#x0364;hrten, die &#x017F;ind mein Verderben, mit die&#x017F;en<lb/>
Ein un&#x017F;eliger Schlaf! Ach helft mir, Freunde! Ihr ko&#x0364;nnt es.</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o wollt' ich &#x017F;ie mir mit &#x017F;chmeichelnden Worten gewinnen. <note place="right">70</note><lb/>
Aber &#x017F;ie &#x017F;chwiegen &#x017F;till; der Vater gab mir zur Antwort:</p><lb/>
        <p>Hebe dich eilig hinweg von der In&#x017F;el, du Aerg&#x017F;ter der Men&#x017F;chen!<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[185/0191] Zehnter Geſang. Wie viel Silber und Gold in dieſem Schlauche doch ſtecke. 45 Alſo ſprach man. Es ſiegte der boͤſe Rath der Genoßen; Und ſie loͤſten den Schlauch, und mit Einmal entſauſten die Winde. Ploͤzlich ergriff ſie der Sturm, und ſchleuderte weit in das Weltmeer Hin die Weinenden, ferne vom Vaterlande. Da fuhr ich Schnell aus dem Schlaf, und erwog in meiner unſtraͤflichen Seele; Ob ich vom Schiffe hinab in die tobenden Wogen mich ſtuͤrzte, Oder es ſchweigend erduldet', und noch bei den Lebenden bliebe; Aber ich duldet' und blieb, und lag mit verhuͤlletem Antliz Auf dem Verdeck; und es warf der Orkan lautbrauſend die Schiffe Nach der aioliſchen Inſel zuruͤck; es ſeufzten die Maͤnner. 50 55 Alda ſtiegen wir aus an den Strand, und ſchoͤpften uns Waßer. Schnell bereiteten uns die Gefaͤhrten ein Mahl bei den Schiffen. Und ſobald wir das Herz mit Trank und Speiſe geſtaͤrket, Eilt' ich, von unſerem Herold' und einem Gefaͤhrten begleitet, Zu der herlichen Burg des Aiolos. Dieſen erblickt' ich Sizend mit ſeinem Weib' und ſeinen Kindern beim Schmauſe. Und wir gingen ins Haus, und ſezten uns neben den Pfoſten Auf die Schwelle dahin; ſie erſchracken im Herzen, und fragten: 60 Siehe woher, Oduͤßeus? Welch boͤſer Daͤmon verfolgt dich? Haben wir doch die Fahrt ſo ſorgſam gefoͤrdert, damit du Heim in dein Vaterland, und wohin dirs beliebte, gelangteſt! 65 Alſo ſprach man; und ich antwortete, trauriges Herzens: Meine boͤſen Gefaͤhrten, die ſind mein Verderben, mit dieſen Ein unſeliger Schlaf! Ach helft mir, Freunde! Ihr koͤnnt es. Alſo wollt' ich ſie mir mit ſchmeichelnden Worten gewinnen. Aber ſie ſchwiegen ſtill; der Vater gab mir zur Antwort: 70 Hebe dich eilig hinweg von der Inſel, du Aergſter der Menſchen!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/191
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/191>, abgerufen am 24.11.2024.