Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Neunter Gesang.
Oder würgt man dich selbst, arglistig oder gewaltsam?

Ihnen erwiederte drauf aus der Felsenkluft Polüfämos:
Niemand würgt mich, ihr Freund', arglistig! und keiner gewaltsam!

Drauf antworteten sie, und schrien die geflügelten Worte:
Wenn dir denn keiner Gewalt anthut in der einsamen Höhle; 410
Gegen Schmerzen, die Zeus dir schickt, ist kein anderes Mittel:
Flehe zu deinem Vater, dem Meerbeherscher Poseidon!

Also schrien sie, und gingen. Mir lachte die Seele vor Freude,
Daß sie mein falscher Name geteuscht und mein treflicher Einfall.
Aber ächzend vor Quaal, mit jammervollem Gewinsel 415
Tappte der blinde Küklop, und nahm den Stein von der Pforte,
Sezte sich dann in die Pforte, mit ausgebreiteten Händen,
Tastend, ob nicht vielleicht mit den Schafen einer entwischte.
So einfältig hielt mich in seinem Herzen der Riese.
Aber ich sann umher, das sicherste Mittel zu finden, 420
Wie ich meine Gefährten und mich von dem schrecklichen Tode
Rettete. Tausend Entwürf' und Listen wurden ersonnen;
Denn es galt das Leben; und fürchterlich drang die Entscheidung!
Doch von allen Entwürfen gefiel mir dieser am beßten.

Seine Widder waren sehr feist, dickbuschichter Vließe, 425
Groß und stattlich von Wuchs, mit brauner Wolle bekleidet.
Diese band ich geheim mit schwanken Ruten zusammen,
Wo der Küklop auf schlief, das gottlose Ungeheuer!
Drei und drei: der mittelste Bock trug einen der Männer,
Und zween gingen beiher, und schirmten meine Gefährten. 430
Also trugen jeglichen Mann drei Widder. Ich selber
Wählte mir einen Bock, den treflichsten unter der Heerde.

M

Neunter Geſang.
Oder wuͤrgt man dich ſelbſt, argliſtig oder gewaltſam?

Ihnen erwiederte drauf aus der Felſenkluft Poluͤfaͤmos:
Niemand wuͤrgt mich, ihr Freund', argliſtig! und keiner gewaltſam!

Drauf antworteten ſie, und ſchrien die gefluͤgelten Worte:
Wenn dir denn keiner Gewalt anthut in der einſamen Hoͤhle; 410
Gegen Schmerzen, die Zeus dir ſchickt, iſt kein anderes Mittel:
Flehe zu deinem Vater, dem Meerbeherſcher Poſeidon!

Alſo ſchrien ſie, und gingen. Mir lachte die Seele vor Freude,
Daß ſie mein falſcher Name geteuſcht und mein treflicher Einfall.
Aber aͤchzend vor Quaal, mit jammervollem Gewinſel 415
Tappte der blinde Kuͤklop, und nahm den Stein von der Pforte,
Sezte ſich dann in die Pforte, mit ausgebreiteten Haͤnden,
Taſtend, ob nicht vielleicht mit den Schafen einer entwiſchte.
So einfaͤltig hielt mich in ſeinem Herzen der Rieſe.
Aber ich ſann umher, das ſicherſte Mittel zu finden, 420
Wie ich meine Gefaͤhrten und mich von dem ſchrecklichen Tode
Rettete. Tauſend Entwuͤrf' und Liſten wurden erſonnen;
Denn es galt das Leben; und fuͤrchterlich drang die Entſcheidung!
Doch von allen Entwuͤrfen gefiel mir dieſer am beßten.

Seine Widder waren ſehr feiſt, dickbuſchichter Vließe, 425
Groß und ſtattlich von Wuchs, mit brauner Wolle bekleidet.
Dieſe band ich geheim mit ſchwanken Ruten zuſammen,
Wo der Kuͤklop auf ſchlief, das gottloſe Ungeheuer!
Drei und drei: der mittelſte Bock trug einen der Maͤnner,
Und zween gingen beiher, und ſchirmten meine Gefaͤhrten. 430
Alſo trugen jeglichen Mann drei Widder. Ich ſelber
Waͤhlte mir einen Bock, den treflichſten unter der Heerde.

M
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0183" n="177"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Neunter Ge&#x017F;ang.</hi></fw><lb/>
Oder wu&#x0364;rgt man dich &#x017F;elb&#x017F;t, argli&#x017F;tig oder gewalt&#x017F;am?</p><lb/>
        <p>Ihnen erwiederte drauf aus der Fel&#x017F;enkluft Polu&#x0364;fa&#x0364;mos:<lb/>
Niemand wu&#x0364;rgt mich, ihr Freund', argli&#x017F;tig! und keiner gewalt&#x017F;am!</p><lb/>
        <p>Drauf antworteten &#x017F;ie, und &#x017F;chrien die geflu&#x0364;gelten Worte:<lb/>
Wenn dir denn keiner Gewalt anthut in der ein&#x017F;amen Ho&#x0364;hle; <note place="right">410</note><lb/>
Gegen Schmerzen, die Zeus dir &#x017F;chickt, i&#x017F;t kein anderes Mittel:<lb/>
Flehe zu deinem Vater, dem Meerbeher&#x017F;cher Po&#x017F;eidon!</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;chrien &#x017F;ie, und gingen. Mir lachte die Seele vor Freude,<lb/>
Daß &#x017F;ie mein fal&#x017F;cher Name geteu&#x017F;cht und mein treflicher Einfall.<lb/>
Aber a&#x0364;chzend vor Quaal, mit jammervollem Gewin&#x017F;el <note place="right">415</note><lb/>
Tappte der blinde Ku&#x0364;klop, und nahm den Stein von der Pforte,<lb/>
Sezte &#x017F;ich dann in die Pforte, mit ausgebreiteten Ha&#x0364;nden,<lb/>
Ta&#x017F;tend, ob nicht vielleicht mit den Schafen einer entwi&#x017F;chte.<lb/>
So einfa&#x0364;ltig hielt mich in &#x017F;einem Herzen der Rie&#x017F;e.<lb/>
Aber ich &#x017F;ann umher, das &#x017F;icher&#x017F;te Mittel zu finden, <note place="right">420</note><lb/>
Wie ich meine Gefa&#x0364;hrten und mich von dem &#x017F;chrecklichen Tode<lb/>
Rettete. Tau&#x017F;end Entwu&#x0364;rf' und Li&#x017F;ten wurden er&#x017F;onnen;<lb/>
Denn es galt das Leben; und fu&#x0364;rchterlich drang die Ent&#x017F;cheidung!<lb/>
Doch von allen Entwu&#x0364;rfen gefiel mir die&#x017F;er am beßten.</p><lb/>
        <p>Seine Widder waren &#x017F;ehr fei&#x017F;t, dickbu&#x017F;chichter Vließe, <note place="right">425</note><lb/>
Groß und &#x017F;tattlich von Wuchs, mit brauner Wolle bekleidet.<lb/>
Die&#x017F;e band ich geheim mit &#x017F;chwanken Ruten zu&#x017F;ammen,<lb/>
Wo der Ku&#x0364;klop auf &#x017F;chlief, das gottlo&#x017F;e Ungeheuer!<lb/>
Drei und drei: der mittel&#x017F;te Bock trug einen der Ma&#x0364;nner,<lb/>
Und zween gingen beiher, und &#x017F;chirmten meine Gefa&#x0364;hrten. <note place="right">430</note><lb/>
Al&#x017F;o trugen jeglichen Mann drei Widder. Ich &#x017F;elber<lb/>
Wa&#x0364;hlte mir einen Bock, den treflich&#x017F;ten unter der Heerde.<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">M</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[177/0183] Neunter Geſang. Oder wuͤrgt man dich ſelbſt, argliſtig oder gewaltſam? Ihnen erwiederte drauf aus der Felſenkluft Poluͤfaͤmos: Niemand wuͤrgt mich, ihr Freund', argliſtig! und keiner gewaltſam! Drauf antworteten ſie, und ſchrien die gefluͤgelten Worte: Wenn dir denn keiner Gewalt anthut in der einſamen Hoͤhle; Gegen Schmerzen, die Zeus dir ſchickt, iſt kein anderes Mittel: Flehe zu deinem Vater, dem Meerbeherſcher Poſeidon! 410 Alſo ſchrien ſie, und gingen. Mir lachte die Seele vor Freude, Daß ſie mein falſcher Name geteuſcht und mein treflicher Einfall. Aber aͤchzend vor Quaal, mit jammervollem Gewinſel Tappte der blinde Kuͤklop, und nahm den Stein von der Pforte, Sezte ſich dann in die Pforte, mit ausgebreiteten Haͤnden, Taſtend, ob nicht vielleicht mit den Schafen einer entwiſchte. So einfaͤltig hielt mich in ſeinem Herzen der Rieſe. Aber ich ſann umher, das ſicherſte Mittel zu finden, Wie ich meine Gefaͤhrten und mich von dem ſchrecklichen Tode Rettete. Tauſend Entwuͤrf' und Liſten wurden erſonnen; Denn es galt das Leben; und fuͤrchterlich drang die Entſcheidung! Doch von allen Entwuͤrfen gefiel mir dieſer am beßten. 415 420 Seine Widder waren ſehr feiſt, dickbuſchichter Vließe, Groß und ſtattlich von Wuchs, mit brauner Wolle bekleidet. Dieſe band ich geheim mit ſchwanken Ruten zuſammen, Wo der Kuͤklop auf ſchlief, das gottloſe Ungeheuer! Drei und drei: der mittelſte Bock trug einen der Maͤnner, Und zween gingen beiher, und ſchirmten meine Gefaͤhrten. Alſo trugen jeglichen Mann drei Widder. Ich ſelber Waͤhlte mir einen Bock, den treflichſten unter der Heerde. 425 430 M

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/183
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/183>, abgerufen am 21.11.2024.