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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

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Odüßee.
Meer und Erde zugleich; und dem düstern Himmel entsank Nacht.
Unter sich stürmten der Ost und der Süd und der sausende Westwind, 295
Auch der hellfrierende Nord, und wälzte gewaltige Wogen.
Und dem edlen Odüßeus erzitterten Herz und Kniee;
Tiefaufseufzend sprach er zu seiner erhabenen Seele:

Weh mir, ich elender Mann! Was werd' ich noch endlich erleben!
Ach ich fürchte, die Göttin hat lauter Wahrheit geweißagt, 300
Die mir im wilden Meere, bevor ich zur Heimat gelangte,
Leiden die Fülle verhieß! Das wird nun alles erfüllet!
Ha! wie fürchterlich Zeus den ganzen Himmel in Wolken
Hüllt, und das Meer aufregt! Wie sausen die wütenden Stürme
Aller Enden daher! Nun ist mein Verderben entschieden! 305
Dreimal selige Griechen und viermal, die ihr in Troja's
Weitem Gefilde sankt, der Atreiden Ehre verfechtend!
Wär' ich doch auch gestorben, und hätte die traurige Laufbahn
An dem Tage vollendet, als mich, im Getümmel der Troer,
Eherne Lanzen umflogen, um unsern erschlagnen Achilleus! 310
Dann wär' ich rühmlich bestatet, dann sängen mein Lob die Achaier!
Aber nun ist mein Loos, des schmählichen Todes zu sterben!

Also sprach er; da schlug die entsezliche Woge von oben
Hochherdrohend herab, daß im Wirbel der Floß sich herumriß:
Weithin warf ihn der Schwung des erschütterten Floßes, und raubte 315
Ihm aus den Händen das Steur; und mit Einmal stürzte der Mastbaum
Krachend hinab vor der Wut der fürchterlich sausenden Windsbraut.
Weithin flog in die Wogen die Stang' und das flatternde Segel.
Lange blieb er untergetaucht, und strebte vergebens,
Unter der ungestüm rollenden Flut sich empor zu schwingen; 320
Denn ihn beschwerten die Kleider, die ihm Kalüpso geschenket.

Oduͤßee.
Meer und Erde zugleich; und dem duͤſtern Himmel entſank Nacht.
Unter ſich ſtuͤrmten der Oſt und der Suͤd und der ſauſende Weſtwind, 295
Auch der hellfrierende Nord, und waͤlzte gewaltige Wogen.
Und dem edlen Oduͤßeus erzitterten Herz und Kniee;
Tiefaufſeufzend ſprach er zu ſeiner erhabenen Seele:

Weh mir, ich elender Mann! Was werd' ich noch endlich erleben!
Ach ich fuͤrchte, die Goͤttin hat lauter Wahrheit geweißagt, 300
Die mir im wilden Meere, bevor ich zur Heimat gelangte,
Leiden die Fuͤlle verhieß! Das wird nun alles erfuͤllet!
Ha! wie fuͤrchterlich Zeus den ganzen Himmel in Wolken
Huͤllt, und das Meer aufregt! Wie ſauſen die wuͤtenden Stuͤrme
Aller Enden daher! Nun iſt mein Verderben entſchieden! 305
Dreimal ſelige Griechen und viermal, die ihr in Troja's
Weitem Gefilde ſankt, der Atreiden Ehre verfechtend!
Waͤr' ich doch auch geſtorben, und haͤtte die traurige Laufbahn
An dem Tage vollendet, als mich, im Getuͤmmel der Troer,
Eherne Lanzen umflogen, um unſern erſchlagnen Achilleus! 310
Dann waͤr' ich ruͤhmlich beſtatet, dann ſaͤngen mein Lob die Achaier!
Aber nun iſt mein Loos, des ſchmaͤhlichen Todes zu ſterben!

Alſo ſprach er; da ſchlug die entſezliche Woge von oben
Hochherdrohend herab, daß im Wirbel der Floß ſich herumriß:
Weithin warf ihn der Schwung des erſchuͤtterten Floßes, und raubte 315
Ihm aus den Haͤnden das Steur; und mit Einmal ſtuͤrzte der Maſtbaum
Krachend hinab vor der Wut der fuͤrchterlich ſauſenden Windsbraut.
Weithin flog in die Wogen die Stang' und das flatternde Segel.
Lange blieb er untergetaucht, und ſtrebte vergebens,
Unter der ungeſtuͤm rollenden Flut ſich empor zu ſchwingen; 320
Denn ihn beſchwerten die Kleider, die ihm Kaluͤpſo geſchenket.

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[106/0112] Oduͤßee. Meer und Erde zugleich; und dem duͤſtern Himmel entſank Nacht. Unter ſich ſtuͤrmten der Oſt und der Suͤd und der ſauſende Weſtwind, Auch der hellfrierende Nord, und waͤlzte gewaltige Wogen. Und dem edlen Oduͤßeus erzitterten Herz und Kniee; Tiefaufſeufzend ſprach er zu ſeiner erhabenen Seele: 295 Weh mir, ich elender Mann! Was werd' ich noch endlich erleben! Ach ich fuͤrchte, die Goͤttin hat lauter Wahrheit geweißagt, Die mir im wilden Meere, bevor ich zur Heimat gelangte, Leiden die Fuͤlle verhieß! Das wird nun alles erfuͤllet! Ha! wie fuͤrchterlich Zeus den ganzen Himmel in Wolken Huͤllt, und das Meer aufregt! Wie ſauſen die wuͤtenden Stuͤrme Aller Enden daher! Nun iſt mein Verderben entſchieden! Dreimal ſelige Griechen und viermal, die ihr in Troja's Weitem Gefilde ſankt, der Atreiden Ehre verfechtend! Waͤr' ich doch auch geſtorben, und haͤtte die traurige Laufbahn An dem Tage vollendet, als mich, im Getuͤmmel der Troer, Eherne Lanzen umflogen, um unſern erſchlagnen Achilleus! Dann waͤr' ich ruͤhmlich beſtatet, dann ſaͤngen mein Lob die Achaier! Aber nun iſt mein Loos, des ſchmaͤhlichen Todes zu ſterben! 300 305 310 Alſo ſprach er; da ſchlug die entſezliche Woge von oben Hochherdrohend herab, daß im Wirbel der Floß ſich herumriß: Weithin warf ihn der Schwung des erſchuͤtterten Floßes, und raubte Ihm aus den Haͤnden das Steur; und mit Einmal ſtuͤrzte der Maſtbaum Krachend hinab vor der Wut der fuͤrchterlich ſauſenden Windsbraut. Weithin flog in die Wogen die Stang' und das flatternde Segel. Lange blieb er untergetaucht, und ſtrebte vergebens, Unter der ungeſtuͤm rollenden Flut ſich empor zu ſchwingen; Denn ihn beſchwerten die Kleider, die ihm Kaluͤpſo geſchenket. 315 320

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Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/112>, abgerufen am 05.05.2024.