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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

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Fünfter Gesang.
Glauben darf ich doch wohl, daß ich nicht schlechter als sie bin,
Weder an Wuchs noch Bildung! Wie könnten sterbliche Weiber
Mit unsterblichen sich an Gestalt und Schönheit vergleichen?

Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odüßeus:
Zürne mir darum nicht, ehrwürdige Göttin! Ich weiß es 215
Selber zu gut, wie sehr der klugen Pänelopeia
Reiz vor deiner Gestalt und erhabenen Größe verschwindet;
Denn sie ist nur sterblich, und dich schmückt ewige Jugend.
Aber ich wünsche dennoch und sehne mich täglich von Herzen,
Wieder nach Hause zu gehn, und zu schaun den Tag der Zurückkunft. 220
Und verfolgt mich ein Gott im dunkeln Meere, so will ichs
Dulden; mein Herz im Busen ist längst zum Leiden gehärtet!
Denn ich habe schon vieles erlebt, schon vieles erduldet,
Schrecken des Meers und des Kriegs: so mag auch dieses geschehen!

Also sprach er; da sank die Sonne, und Dunkel erhob sich. 225
Beide gingen zur Kammer der schöngewölbeten Grotte,
Und genoßen der Lieb', und ruheten neben einander.

Als die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwachte,
Da bekleidete sich Odüßeus mit Mantel und Leibrock.
Aber die Nümfe zog ihr silberfarbnes Gewand an, 230
Fein und zierlichgewebt; und schlang um die Hüfte den Gürtel,
Schön mit Golde gestickt; und schmückte das Haupt mit dem Schleier.
Eilend besorgte sie jezo die Reise des edlen Odüßeus:
Gab ihm die mächtige Axt, von gehärteten Erze geschmiedet,
Unten und oben geschärft, und sicheres Schwunges, und drinnen 235
War ein zierlicher Stiel von Olivenholze befestigt;
Gab ihm auch ein geschliffenes Beil, und führet' ihn jezo
An der Insel Gestade voll hoher schattender Bäume,

Fuͤnfter Geſang.
Glauben darf ich doch wohl, daß ich nicht ſchlechter als ſie bin,
Weder an Wuchs noch Bildung! Wie koͤnnten ſterbliche Weiber
Mit unſterblichen ſich an Geſtalt und Schoͤnheit vergleichen?

Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Oduͤßeus:
Zuͤrne mir darum nicht, ehrwuͤrdige Goͤttin! Ich weiß es 215
Selber zu gut, wie ſehr der klugen Paͤnelopeia
Reiz vor deiner Geſtalt und erhabenen Groͤße verſchwindet;
Denn ſie iſt nur ſterblich, und dich ſchmuͤckt ewige Jugend.
Aber ich wuͤnſche dennoch und ſehne mich taͤglich von Herzen,
Wieder nach Hauſe zu gehn, und zu ſchaun den Tag der Zuruͤckkunft. 220
Und verfolgt mich ein Gott im dunkeln Meere, ſo will ichs
Dulden; mein Herz im Buſen iſt laͤngſt zum Leiden gehaͤrtet!
Denn ich habe ſchon vieles erlebt, ſchon vieles erduldet,
Schrecken des Meers und des Kriegs: ſo mag auch dieſes geſchehen!

Alſo ſprach er; da ſank die Sonne, und Dunkel erhob ſich. 225
Beide gingen zur Kammer der ſchoͤngewoͤlbeten Grotte,
Und genoßen der Lieb', und ruheten neben einander.

Als die daͤmmernde Fruͤhe mit Roſenfingern erwachte,
Da bekleidete ſich Oduͤßeus mit Mantel und Leibrock.
Aber die Nuͤmfe zog ihr ſilberfarbnes Gewand an, 230
Fein und zierlichgewebt; und ſchlang um die Huͤfte den Guͤrtel,
Schoͤn mit Golde geſtickt; und ſchmuͤckte das Haupt mit dem Schleier.
Eilend beſorgte ſie jezo die Reiſe des edlen Oduͤßeus:
Gab ihm die maͤchtige Axt, von gehaͤrteten Erze geſchmiedet,
Unten und oben geſchaͤrft, und ſicheres Schwunges, und drinnen 235
War ein zierlicher Stiel von Olivenholze befeſtigt;
Gab ihm auch ein geſchliffenes Beil, und fuͤhret' ihn jezo
An der Inſel Geſtade voll hoher ſchattender Baͤume,

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[103/0109] Fuͤnfter Geſang. Glauben darf ich doch wohl, daß ich nicht ſchlechter als ſie bin, Weder an Wuchs noch Bildung! Wie koͤnnten ſterbliche Weiber Mit unſterblichen ſich an Geſtalt und Schoͤnheit vergleichen? Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Oduͤßeus: Zuͤrne mir darum nicht, ehrwuͤrdige Goͤttin! Ich weiß es Selber zu gut, wie ſehr der klugen Paͤnelopeia Reiz vor deiner Geſtalt und erhabenen Groͤße verſchwindet; Denn ſie iſt nur ſterblich, und dich ſchmuͤckt ewige Jugend. Aber ich wuͤnſche dennoch und ſehne mich taͤglich von Herzen, Wieder nach Hauſe zu gehn, und zu ſchaun den Tag der Zuruͤckkunft. Und verfolgt mich ein Gott im dunkeln Meere, ſo will ichs Dulden; mein Herz im Buſen iſt laͤngſt zum Leiden gehaͤrtet! Denn ich habe ſchon vieles erlebt, ſchon vieles erduldet, Schrecken des Meers und des Kriegs: ſo mag auch dieſes geſchehen! 215 220 Alſo ſprach er; da ſank die Sonne, und Dunkel erhob ſich. Beide gingen zur Kammer der ſchoͤngewoͤlbeten Grotte, Und genoßen der Lieb', und ruheten neben einander. 225 Als die daͤmmernde Fruͤhe mit Roſenfingern erwachte, Da bekleidete ſich Oduͤßeus mit Mantel und Leibrock. Aber die Nuͤmfe zog ihr ſilberfarbnes Gewand an, Fein und zierlichgewebt; und ſchlang um die Huͤfte den Guͤrtel, Schoͤn mit Golde geſtickt; und ſchmuͤckte das Haupt mit dem Schleier. Eilend beſorgte ſie jezo die Reiſe des edlen Oduͤßeus: Gab ihm die maͤchtige Axt, von gehaͤrteten Erze geſchmiedet, Unten und oben geſchaͤrft, und ſicheres Schwunges, und drinnen War ein zierlicher Stiel von Olivenholze befeſtigt; Gab ihm auch ein geſchliffenes Beil, und fuͤhret' ihn jezo An der Inſel Geſtade voll hoher ſchattender Baͤume, 230 235

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Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/109>, abgerufen am 21.11.2024.