Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Odüßee.
So bedachtsam und schlau ist alles, was du geredet!
Nun mir zeuge die Erde, der weite Himmel dort oben,
Und die stügischen Waßer der Tiefe; welches der größte 185
Furchtbarste Eidschwur ist für alle unsterblichen Götter:
Daß ich bei mir nichts anders zu deinem Verderben beschließe!
Sondern ich denke so und rede, wie ich mir selber
Suchen würde zu rathen, wär' ich in gleicher Bedrängniß!
Denn ich denke gewiß nicht ganz unbillig, und trage 190
Nicht im Busen ein Herz von Eisen, sondern voll Mitleid!

Also sprach sie, und ging, die hehre Göttin Kalüpso,
Eilend voran, und er folgte den Schritten der wandelnden Göttin.
Und sie kamen zur Grotte, die Göttin und ihr Geliebter.
Alda sezte der Held auf den Thron sich nieder, auf welchem 195
Hermäs hatte geseßen. Ihm reichte die heilige Nümfe
Allerlei Speis' und Trank, was sterbliche Männer genießen;
Sezte sich dann entgegen dem göttergleichen Odüßeus,
Und Ambrosia reichten ihr Dienerinnen und Nektar.
Und sie erhoben die Hände zum leckerbereiteten Mahle. 200
Als sie jezo ihr Herz mit Trank und Speise gesättigt;
Da begann das Gespräch die hehre Göttin Kalüpso:

Edler Laertiad', erfindungsreicher Odüßeus,
Also willst du mich nun so bald verlaßen, und wieder
In dein geliebtes Vaterland gehn? Nun Glück auf die Reise! 205
Aber wüßte dein Herz, wie viele Leiden das Schicksal
Dir zu dulden bestimmt, bevor du zur Heimat gelangest;
Gerne würdest du bleiben, mit mir die Grotte bewohnen,
Und ein Unsterblicher sein: wie sehr du auch wünschest, die Gattin
Wiederzusehn, nach welcher du stets so herzlich dich sehnest! 210

Oduͤßee.
So bedachtſam und ſchlau iſt alles, was du geredet!
Nun mir zeuge die Erde, der weite Himmel dort oben,
Und die ſtuͤgiſchen Waßer der Tiefe; welches der groͤßte 185
Furchtbarſte Eidſchwur iſt fuͤr alle unſterblichen Goͤtter:
Daß ich bei mir nichts anders zu deinem Verderben beſchließe!
Sondern ich denke ſo und rede, wie ich mir ſelber
Suchen wuͤrde zu rathen, waͤr' ich in gleicher Bedraͤngniß!
Denn ich denke gewiß nicht ganz unbillig, und trage 190
Nicht im Buſen ein Herz von Eiſen, ſondern voll Mitleid!

Alſo ſprach ſie, und ging, die hehre Goͤttin Kaluͤpſo,
Eilend voran, und er folgte den Schritten der wandelnden Goͤttin.
Und ſie kamen zur Grotte, die Goͤttin und ihr Geliebter.
Alda ſezte der Held auf den Thron ſich nieder, auf welchem 195
Hermaͤs hatte geſeßen. Ihm reichte die heilige Nuͤmfe
Allerlei Speiſ' und Trank, was ſterbliche Maͤnner genießen;
Sezte ſich dann entgegen dem goͤttergleichen Oduͤßeus,
Und Ambroſia reichten ihr Dienerinnen und Nektar.
Und ſie erhoben die Haͤnde zum leckerbereiteten Mahle. 200
Als ſie jezo ihr Herz mit Trank und Speiſe geſaͤttigt;
Da begann das Geſpraͤch die hehre Goͤttin Kaluͤpſo:

Edler Laertiad', erfindungsreicher Oduͤßeus,
Alſo willſt du mich nun ſo bald verlaßen, und wieder
In dein geliebtes Vaterland gehn? Nun Gluͤck auf die Reiſe! 205
Aber wuͤßte dein Herz, wie viele Leiden das Schickſal
Dir zu dulden beſtimmt, bevor du zur Heimat gelangeſt;
Gerne wuͤrdeſt du bleiben, mit mir die Grotte bewohnen,
Und ein Unſterblicher ſein: wie ſehr du auch wuͤnſcheſt, die Gattin
Wiederzuſehn, nach welcher du ſtets ſo herzlich dich ſehneſt! 210

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0108" n="102"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Odu&#x0364;ßee.</hi></fw><lb/>
So bedacht&#x017F;am und &#x017F;chlau i&#x017F;t alles, was du geredet!<lb/>
Nun mir zeuge die Erde, der weite Himmel dort oben,<lb/>
Und die &#x017F;tu&#x0364;gi&#x017F;chen Waßer der Tiefe; welches der gro&#x0364;ßte <note place="right">185</note><lb/>
Furchtbar&#x017F;te Eid&#x017F;chwur i&#x017F;t fu&#x0364;r alle un&#x017F;terblichen Go&#x0364;tter:<lb/>
Daß ich bei mir nichts anders zu deinem Verderben be&#x017F;chließe!<lb/>
Sondern ich denke &#x017F;o und rede, wie ich mir &#x017F;elber<lb/>
Suchen wu&#x0364;rde zu rathen, wa&#x0364;r' ich in gleicher Bedra&#x0364;ngniß!<lb/>
Denn ich denke gewiß nicht ganz unbillig, und trage <note place="right">190</note><lb/>
Nicht im Bu&#x017F;en ein Herz von Ei&#x017F;en, &#x017F;ondern voll Mitleid!</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach &#x017F;ie, und ging, die hehre Go&#x0364;ttin Kalu&#x0364;p&#x017F;o,<lb/>
Eilend voran, und er folgte den Schritten der wandelnden Go&#x0364;ttin.<lb/>
Und &#x017F;ie kamen zur Grotte, die Go&#x0364;ttin und ihr Geliebter.<lb/>
Alda &#x017F;ezte der Held auf den Thron &#x017F;ich nieder, auf welchem <note place="right">195</note><lb/>
Herma&#x0364;s hatte ge&#x017F;eßen. Ihm reichte die heilige Nu&#x0364;mfe<lb/>
Allerlei Spei&#x017F;' und Trank, was &#x017F;terbliche Ma&#x0364;nner genießen;<lb/>
Sezte &#x017F;ich dann entgegen dem go&#x0364;ttergleichen Odu&#x0364;ßeus,<lb/>
Und Ambro&#x017F;ia reichten ihr Dienerinnen und Nektar.<lb/>
Und &#x017F;ie erhoben die Ha&#x0364;nde zum leckerbereiteten Mahle. <note place="right">200</note><lb/>
Als &#x017F;ie jezo ihr Herz mit Trank und Spei&#x017F;e ge&#x017F;a&#x0364;ttigt;<lb/>
Da begann das Ge&#x017F;pra&#x0364;ch die hehre Go&#x0364;ttin Kalu&#x0364;p&#x017F;o:</p><lb/>
        <p>Edler Laertiad', erfindungsreicher Odu&#x0364;ßeus,<lb/>
Al&#x017F;o will&#x017F;t du mich nun &#x017F;o bald verlaßen, und wieder<lb/>
In dein geliebtes Vaterland gehn? Nun Glu&#x0364;ck auf die Rei&#x017F;e! <note place="right">205</note><lb/>
Aber wu&#x0364;ßte dein Herz, wie viele Leiden das Schick&#x017F;al<lb/>
Dir zu dulden be&#x017F;timmt, bevor du zur Heimat gelange&#x017F;t;<lb/>
Gerne wu&#x0364;rde&#x017F;t du bleiben, mit mir die Grotte bewohnen,<lb/>
Und ein Un&#x017F;terblicher &#x017F;ein: wie &#x017F;ehr du auch wu&#x0364;n&#x017F;che&#x017F;t, die Gattin<lb/>
Wiederzu&#x017F;ehn, nach welcher du &#x017F;tets &#x017F;o herzlich dich &#x017F;ehne&#x017F;t! <note place="right">210</note><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[102/0108] Oduͤßee. So bedachtſam und ſchlau iſt alles, was du geredet! Nun mir zeuge die Erde, der weite Himmel dort oben, Und die ſtuͤgiſchen Waßer der Tiefe; welches der groͤßte Furchtbarſte Eidſchwur iſt fuͤr alle unſterblichen Goͤtter: Daß ich bei mir nichts anders zu deinem Verderben beſchließe! Sondern ich denke ſo und rede, wie ich mir ſelber Suchen wuͤrde zu rathen, waͤr' ich in gleicher Bedraͤngniß! Denn ich denke gewiß nicht ganz unbillig, und trage Nicht im Buſen ein Herz von Eiſen, ſondern voll Mitleid! 185 190 Alſo ſprach ſie, und ging, die hehre Goͤttin Kaluͤpſo, Eilend voran, und er folgte den Schritten der wandelnden Goͤttin. Und ſie kamen zur Grotte, die Goͤttin und ihr Geliebter. Alda ſezte der Held auf den Thron ſich nieder, auf welchem Hermaͤs hatte geſeßen. Ihm reichte die heilige Nuͤmfe Allerlei Speiſ' und Trank, was ſterbliche Maͤnner genießen; Sezte ſich dann entgegen dem goͤttergleichen Oduͤßeus, Und Ambroſia reichten ihr Dienerinnen und Nektar. Und ſie erhoben die Haͤnde zum leckerbereiteten Mahle. Als ſie jezo ihr Herz mit Trank und Speiſe geſaͤttigt; Da begann das Geſpraͤch die hehre Goͤttin Kaluͤpſo: 195 200 Edler Laertiad', erfindungsreicher Oduͤßeus, Alſo willſt du mich nun ſo bald verlaßen, und wieder In dein geliebtes Vaterland gehn? Nun Gluͤck auf die Reiſe! Aber wuͤßte dein Herz, wie viele Leiden das Schickſal Dir zu dulden beſtimmt, bevor du zur Heimat gelangeſt; Gerne wuͤrdeſt du bleiben, mit mir die Grotte bewohnen, Und ein Unſterblicher ſein: wie ſehr du auch wuͤnſcheſt, die Gattin Wiederzuſehn, nach welcher du ſtets ſo herzlich dich ſehneſt! 205 210

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/108
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/108>, abgerufen am 05.05.2024.