Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1236.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0098" n="1236"/><lb n="pvi_1236.001"/> um so mehr zu betonen. Dazu kommt die Stimmung im gegebenen <lb n="pvi_1236.002"/> Momente: Hamlet ist freudig gehoben durch die Entdeckung eines längst <lb n="pvi_1236.003"/> geahnten Verbrechens und er liebt es, eine große Genugthuung im Tone <lb n="pvi_1236.004"/> gemeiner Lustigkeit auszudrücken, nicht um jene, sondern um diese zu ironisiren; <lb n="pvi_1236.005"/> man vergleiche sein Benehmen nach der Wirkung des aufgeführten <lb n="pvi_1236.006"/> Schauspiels auf den König. Solche Sprünge sind denn im classischen und <lb n="pvi_1236.007"/> classisch auffassenden modernen Style gar nicht denkbar. Zwar darf man <lb n="pvi_1236.008"/> den Unterschied zwischen diesen beiden letzteren auch nicht übersehen: Homer <lb n="pvi_1236.009"/> und die griechischen Tragiker hatten noch nicht das Lachen des modernen <lb n="pvi_1236.010"/> Stumpfsinns zu fürchten, der, wie zu §. 850 erwähnt ist, bei übriger Ungleichheit <lb n="pvi_1236.011"/> so schwer den Vergleichungspunct festzuhalten vermag, sie wimmeln <lb n="pvi_1236.012"/> von Bildern, welche die niedrige Sphäre nicht scheuen, wenn sie nur schlagende <lb n="pvi_1236.013"/> Wahrheit darbietet; Homer vergleicht seine Helden nicht nur mit Eseln, <lb n="pvi_1236.014"/> Stieren, Widdern, – diese Thiere waren überhaupt noch nicht für die Komik <lb n="pvi_1236.015"/> abgenützt, – er verschmäht es auch nicht, den Eigensinn der Fliege, den <lb n="pvi_1236.016"/> am Lande zappelnden Fisch herbeizuziehen, um dem hartnäckigen Muthe, der <lb n="pvi_1236.017"/> stets auf dieselbe Stelle im Getümmel sich wirft, dem schnappenden Röcheln <lb n="pvi_1236.018"/> des tödtlich Verwundeten ein haarscharfes Licht der Vergleichung zuzuführen. <lb n="pvi_1236.019"/> Solche Bilder kommen uns naiv vor, sind aber nur rein poetisch und beiden <lb n="pvi_1236.020"/> entgegengesetzten Stylen gemeinsam; es ist daher nicht durch die übrigens <lb n="pvi_1236.021"/> allerdings zarteren Grenzen des classisch gebildeten Gefühls gerechtfertigt, <lb n="pvi_1236.022"/> sondern nur sehr bezeichnend für seine rhetorische Art, wenn Schiller sich <lb n="pvi_1236.023"/> scheut, in dem treffenden Bilde von dem Geier und den Küchlein zu bleiben, <lb n="pvi_1236.024"/> wo Makduff ausruft: „All' die lieben Kleinen? Jhr sagtet: alle? – <lb n="pvi_1236.025"/> Höllengeier! – Alle? – Wie, meine süßen Küchlein mit der Mutter auf <lb n="pvi_1236.026"/> <hi rendition="#g">einen</hi> gier'gen Stoß?“ und übersetzt: „Alle! Was? Meine zarten kleinen <lb n="pvi_1236.027"/> <hi rendition="#g">Engel</hi> alle? O höllischer Geier! Alle! Mutter, Kinder mit einem einz'gen <lb n="pvi_1236.028"/> <hi rendition="#g">Tiger</hi>griff!“ Wahrhaft platt sind diese vermeintlich erhabeneren „Engel“ <lb n="pvi_1236.029"/> und der „Tiger“, zugleich hat die Scheue vor dem einfach Wahren hier zu <lb n="pvi_1236.030"/> einer wirklich ganz unstatthaften Katachrese geführt (vgl. über dieses belehrende <lb n="pvi_1236.031"/> Beispiel: Timm, das Nibelungenlied u. s. w. S. 25). Wenn aber im Uebrigen <lb n="pvi_1236.032"/> der charakteristische Styl auch in diesem Gebiete sich scharf genug von dem <lb n="pvi_1236.033"/> plastisch idealen unterscheidet, wenn er gerade darum ungleich mehr wagt, <lb n="pvi_1236.034"/> weil die Tiefen des Geistes, die er aufdeckt, die freie Entlassung der Particularität <lb n="pvi_1236.035"/> nicht nur ertragen, sondern sogar fordern, damit die Macht des <lb n="pvi_1236.036"/> Bandes sich zeige, welches die Extreme zusammenhält, so bricht jene vertiefte <lb n="pvi_1236.037"/> Haltung und Stimmung auf der andern Seite in Bildern aus, welche <lb n="pvi_1236.038"/> überpathetisch, visionär, verzückt erscheinen, welche, auf den ersten Btick seltsam <lb n="pvi_1236.039"/> und wildfremd, demjenigen, der sich in den Zustand zu versetzen vermag, <lb n="pvi_1236.040"/> bei näherem und längerem Anschauen klar werden, wie Rembrandt's traumhaft <lb n="pvi_1236.041"/> in's Dunkel leuchtendes Helldunkel oder das wilde Licht des Blitzes </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1236/0098]
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um so mehr zu betonen. Dazu kommt die Stimmung im gegebenen pvi_1236.002
Momente: Hamlet ist freudig gehoben durch die Entdeckung eines längst pvi_1236.003
geahnten Verbrechens und er liebt es, eine große Genugthuung im Tone pvi_1236.004
gemeiner Lustigkeit auszudrücken, nicht um jene, sondern um diese zu ironisiren; pvi_1236.005
man vergleiche sein Benehmen nach der Wirkung des aufgeführten pvi_1236.006
Schauspiels auf den König. Solche Sprünge sind denn im classischen und pvi_1236.007
classisch auffassenden modernen Style gar nicht denkbar. Zwar darf man pvi_1236.008
den Unterschied zwischen diesen beiden letzteren auch nicht übersehen: Homer pvi_1236.009
und die griechischen Tragiker hatten noch nicht das Lachen des modernen pvi_1236.010
Stumpfsinns zu fürchten, der, wie zu §. 850 erwähnt ist, bei übriger Ungleichheit pvi_1236.011
so schwer den Vergleichungspunct festzuhalten vermag, sie wimmeln pvi_1236.012
von Bildern, welche die niedrige Sphäre nicht scheuen, wenn sie nur schlagende pvi_1236.013
Wahrheit darbietet; Homer vergleicht seine Helden nicht nur mit Eseln, pvi_1236.014
Stieren, Widdern, – diese Thiere waren überhaupt noch nicht für die Komik pvi_1236.015
abgenützt, – er verschmäht es auch nicht, den Eigensinn der Fliege, den pvi_1236.016
am Lande zappelnden Fisch herbeizuziehen, um dem hartnäckigen Muthe, der pvi_1236.017
stets auf dieselbe Stelle im Getümmel sich wirft, dem schnappenden Röcheln pvi_1236.018
des tödtlich Verwundeten ein haarscharfes Licht der Vergleichung zuzuführen. pvi_1236.019
Solche Bilder kommen uns naiv vor, sind aber nur rein poetisch und beiden pvi_1236.020
entgegengesetzten Stylen gemeinsam; es ist daher nicht durch die übrigens pvi_1236.021
allerdings zarteren Grenzen des classisch gebildeten Gefühls gerechtfertigt, pvi_1236.022
sondern nur sehr bezeichnend für seine rhetorische Art, wenn Schiller sich pvi_1236.023
scheut, in dem treffenden Bilde von dem Geier und den Küchlein zu bleiben, pvi_1236.024
wo Makduff ausruft: „All' die lieben Kleinen? Jhr sagtet: alle? – pvi_1236.025
Höllengeier! – Alle? – Wie, meine süßen Küchlein mit der Mutter auf pvi_1236.026
einen gier'gen Stoß?“ und übersetzt: „Alle! Was? Meine zarten kleinen pvi_1236.027
Engel alle? O höllischer Geier! Alle! Mutter, Kinder mit einem einz'gen pvi_1236.028
Tigergriff!“ Wahrhaft platt sind diese vermeintlich erhabeneren „Engel“ pvi_1236.029
und der „Tiger“, zugleich hat die Scheue vor dem einfach Wahren hier zu pvi_1236.030
einer wirklich ganz unstatthaften Katachrese geführt (vgl. über dieses belehrende pvi_1236.031
Beispiel: Timm, das Nibelungenlied u. s. w. S. 25). Wenn aber im Uebrigen pvi_1236.032
der charakteristische Styl auch in diesem Gebiete sich scharf genug von dem pvi_1236.033
plastisch idealen unterscheidet, wenn er gerade darum ungleich mehr wagt, pvi_1236.034
weil die Tiefen des Geistes, die er aufdeckt, die freie Entlassung der Particularität pvi_1236.035
nicht nur ertragen, sondern sogar fordern, damit die Macht des pvi_1236.036
Bandes sich zeige, welches die Extreme zusammenhält, so bricht jene vertiefte pvi_1236.037
Haltung und Stimmung auf der andern Seite in Bildern aus, welche pvi_1236.038
überpathetisch, visionär, verzückt erscheinen, welche, auf den ersten Btick seltsam pvi_1236.039
und wildfremd, demjenigen, der sich in den Zustand zu versetzen vermag, pvi_1236.040
bei näherem und längerem Anschauen klar werden, wie Rembrandt's traumhaft pvi_1236.041
in's Dunkel leuchtendes Helldunkel oder das wilde Licht des Blitzes
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