Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1237.001
pvi_1237.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0099" n="1237"/><lb n="pvi_1237.001"/> auf dem Sanherib von Rubens. Der Dramatiker wird solche traumhafte <lb n="pvi_1237.002"/> Bilder den Momenten der tiefsten Erregung vorbehalten. Ein solches Bild <lb n="pvi_1237.003"/> gebraucht der entzückte Romeo in der Gartenscene: „herrlich über meinem <lb n="pvi_1237.004"/> Haupt erscheinst du mir in dieser Nacht wie ein beschwingter Bote des <lb n="pvi_1237.005"/> Himmels den erstaunten Menschensöhnen, die rücklings mit weit aufgeriss'nen <lb n="pvi_1237.006"/> Augen sich niederwerfen, um ihm nachzuschaun.“ Man hat selbst neuerdings, <lb n="pvi_1237.007"/> nachdem wir längst die stumpf phantasielose Kritik des guten Geschmacks <lb n="pvi_1237.008"/> hinter uns haben, Makbeth's ungeheures Gesicht von den Folgen <lb n="pvi_1237.009"/> der Ermordung des Königs für abgeschmackt erklärt: „Duncan's Tugenden <lb n="pvi_1237.010"/> werden wie Engel posaunenzüngig Rache schrei'n dem tiefen Höllengreuel <lb n="pvi_1237.011"/> dieses Mords und Mitleid wie ein nacktes, neugebornes Kind, auf Sturmwind <lb n="pvi_1237.012"/> reitend, oder Himmels-Cherubim zu Roß auf unsichtbaren, luft'gen <lb n="pvi_1237.013"/> Rennern werden die Schreckensthat in jedes Auge blasen, bis Thränenfluth <lb n="pvi_1237.014"/> den Wind ertränkt.“ Der Vergleichungspunct ist die furchtbare Schnelligkeit <lb n="pvi_1237.015"/> und Gewalt, mit welcher die Folgen des Mords, die Kunde, die tiefe <lb n="pvi_1237.016"/> Empörung der Gemüther, Abscheu, Rachtrieb, Mitleid eintreten. Daß auf <lb n="pvi_1237.017"/> den Sturmwolken Duncan's Tugenden als Engel hinsausen, ist eine nur <lb n="pvi_1237.018"/> natürliche Personification und Zungen, deren Ruf so stark ist wie Posaunenton <lb n="pvi_1237.019"/> immer noch keine übertriebene Hyperbel, dann folgt eine ganz ungewöhnliche <lb n="pvi_1237.020"/> Vertauschung von Subject und Object, indem der <hi rendition="#g">Gegenstand</hi> <lb n="pvi_1237.021"/> des innigsten Mitleids, ein nacktes, neugeborenes Kind, für das <hi rendition="#g">Gefühl</hi> <lb n="pvi_1237.022"/> des Mitleids gesetzt ist, aber wer Phantasie hat, kann sich doch wohl in die <lb n="pvi_1237.023"/> Anschauung versetzen: es wird den Menschen zu Muthe sein, als sehen <lb n="pvi_1237.024"/> sie ein hülfloses Kind in den Wolken hinschweben, dem sie zueilen müssen, <lb n="pvi_1237.025"/> wie um es zu retten; die Cherubim, die nachfolgen, scheinen dieses Kind <lb n="pvi_1237.026"/> wie eine Geister-Erscheinung sich vorausgesandt zu haben, wie einen Genius <lb n="pvi_1237.027"/> des Mitleids, der die Gestalt eines Objects des innigsten Mitleids annimmt, <lb n="pvi_1237.028"/> um dieses zu erwecken; sie selbst, auf unsichtbaren luft'gen Rennern, <lb n="pvi_1237.029"/> sind windschnelle Diener der göttlichen Gerechtigkeit; mit dieser Häufung <lb n="pvi_1237.030"/> sammelt sich Alles an wie zu einem Bilde der wilden Jagd und das wollte <lb n="pvi_1237.031"/> Shakespeare; daß der Gehörs-Eindruck sich dann in ein Anwehen der Augen <lb n="pvi_1237.032"/> verwandelt, indem der Weg, den die Kunde vom Ohr zum Gefühle, von <lb n="pvi_1237.033"/> da in's Auge nimmt, übersprungen wird, dieß ist ein Uebergang, dem man <lb n="pvi_1237.034"/> in so tiefer Aufwühlung der Einbildungskraft sollte folgen können, und daß <lb n="pvi_1237.035"/> „die Thränenfluth den Wind erstickt“, ist nur lebendiger Ausdruck dafür, daß, <lb n="pvi_1237.036"/> wie Sturmwind sich in Regen auflöst, die Gefühle bei der ersten Kunde <lb n="pvi_1237.037"/> dieses Mords sich alle in einen grenzenlosen Schmerz auflösen werden, der <lb n="pvi_1237.038"/> dann seine Wirkung so sicher haben wird, wie angeschwollene Fluthen. <lb n="pvi_1237.039"/> Alle Folgen von Makbeth's Mord sind in dieser furchtbaren Vision zusammengefaßt, <lb n="pvi_1237.040"/> das Drama entwickelt in klarer Handlung, was in ihr <lb n="pvi_1237.041"/> seltsam helldunkel enthalten ist; nicht in jeder Stimmung, nicht aus dem </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1237/0099]
pvi_1237.001
auf dem Sanherib von Rubens. Der Dramatiker wird solche traumhafte pvi_1237.002
Bilder den Momenten der tiefsten Erregung vorbehalten. Ein solches Bild pvi_1237.003
gebraucht der entzückte Romeo in der Gartenscene: „herrlich über meinem pvi_1237.004
Haupt erscheinst du mir in dieser Nacht wie ein beschwingter Bote des pvi_1237.005
Himmels den erstaunten Menschensöhnen, die rücklings mit weit aufgeriss'nen pvi_1237.006
Augen sich niederwerfen, um ihm nachzuschaun.“ Man hat selbst neuerdings, pvi_1237.007
nachdem wir längst die stumpf phantasielose Kritik des guten Geschmacks pvi_1237.008
hinter uns haben, Makbeth's ungeheures Gesicht von den Folgen pvi_1237.009
der Ermordung des Königs für abgeschmackt erklärt: „Duncan's Tugenden pvi_1237.010
werden wie Engel posaunenzüngig Rache schrei'n dem tiefen Höllengreuel pvi_1237.011
dieses Mords und Mitleid wie ein nacktes, neugebornes Kind, auf Sturmwind pvi_1237.012
reitend, oder Himmels-Cherubim zu Roß auf unsichtbaren, luft'gen pvi_1237.013
Rennern werden die Schreckensthat in jedes Auge blasen, bis Thränenfluth pvi_1237.014
den Wind ertränkt.“ Der Vergleichungspunct ist die furchtbare Schnelligkeit pvi_1237.015
und Gewalt, mit welcher die Folgen des Mords, die Kunde, die tiefe pvi_1237.016
Empörung der Gemüther, Abscheu, Rachtrieb, Mitleid eintreten. Daß auf pvi_1237.017
den Sturmwolken Duncan's Tugenden als Engel hinsausen, ist eine nur pvi_1237.018
natürliche Personification und Zungen, deren Ruf so stark ist wie Posaunenton pvi_1237.019
immer noch keine übertriebene Hyperbel, dann folgt eine ganz ungewöhnliche pvi_1237.020
Vertauschung von Subject und Object, indem der Gegenstand pvi_1237.021
des innigsten Mitleids, ein nacktes, neugeborenes Kind, für das Gefühl pvi_1237.022
des Mitleids gesetzt ist, aber wer Phantasie hat, kann sich doch wohl in die pvi_1237.023
Anschauung versetzen: es wird den Menschen zu Muthe sein, als sehen pvi_1237.024
sie ein hülfloses Kind in den Wolken hinschweben, dem sie zueilen müssen, pvi_1237.025
wie um es zu retten; die Cherubim, die nachfolgen, scheinen dieses Kind pvi_1237.026
wie eine Geister-Erscheinung sich vorausgesandt zu haben, wie einen Genius pvi_1237.027
des Mitleids, der die Gestalt eines Objects des innigsten Mitleids annimmt, pvi_1237.028
um dieses zu erwecken; sie selbst, auf unsichtbaren luft'gen Rennern, pvi_1237.029
sind windschnelle Diener der göttlichen Gerechtigkeit; mit dieser Häufung pvi_1237.030
sammelt sich Alles an wie zu einem Bilde der wilden Jagd und das wollte pvi_1237.031
Shakespeare; daß der Gehörs-Eindruck sich dann in ein Anwehen der Augen pvi_1237.032
verwandelt, indem der Weg, den die Kunde vom Ohr zum Gefühle, von pvi_1237.033
da in's Auge nimmt, übersprungen wird, dieß ist ein Uebergang, dem man pvi_1237.034
in so tiefer Aufwühlung der Einbildungskraft sollte folgen können, und daß pvi_1237.035
„die Thränenfluth den Wind erstickt“, ist nur lebendiger Ausdruck dafür, daß, pvi_1237.036
wie Sturmwind sich in Regen auflöst, die Gefühle bei der ersten Kunde pvi_1237.037
dieses Mords sich alle in einen grenzenlosen Schmerz auflösen werden, der pvi_1237.038
dann seine Wirkung so sicher haben wird, wie angeschwollene Fluthen. pvi_1237.039
Alle Folgen von Makbeth's Mord sind in dieser furchtbaren Vision zusammengefaßt, pvi_1237.040
das Drama entwickelt in klarer Handlung, was in ihr pvi_1237.041
seltsam helldunkel enthalten ist; nicht in jeder Stimmung, nicht aus dem
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |