Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1235.001 Hier namentlich ist das Beispiel der Malerei belehrend, der Gegensatz pvi_1235.002 pvi_1235.001 Hier namentlich ist das Beispiel der Malerei belehrend, der Gegensatz pvi_1235.002 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0097" n="1235"/> <lb n="pvi_1235.001"/> <p> <hi rendition="#et"> Hier namentlich ist das Beispiel der Malerei belehrend, der Gegensatz <lb n="pvi_1235.002"/> ist genau derselbe, wie zwischen den großen italienischen Meistern, Raphael <lb n="pvi_1235.003"/> an der Spitze, und Rubens, Rembrandt nebst den holländischen Kleinmalern <lb n="pvi_1235.004"/> im Sittenbilde. Wir greifen sogleich in's Concrete und führen namentlich <lb n="pvi_1235.005"/> einige Beispiele auf, welche zeigen, wie anders der classische gehobene <lb n="pvi_1235.006"/> Schiller fühlt, als Shakespeare, der malerische Jndividualist in der Poesie. <lb n="pvi_1235.007"/> Bei diesem zählt Makbeth dem Mörder, dem er erwiedert, er sei nur dem <lb n="pvi_1235.008"/> Geschlechte nach Mann, wie die furchtsamen kleinern Hunde im Verzeichniß <lb n="pvi_1235.009"/> des Hundegeschlechts freilich auch mitlaufen, neun Ra<hi rendition="#aq">ç</hi>en auf, Schiller in <lb n="pvi_1235.010"/> seiner Uebersetzung hält bei der zweiten inne: der classische Styl, der auf <lb n="pvi_1235.011"/> dem Kothurne geht, fürchtet durch engeres Spezialisiren platt zu werden, <lb n="pvi_1235.012"/> der charakteristische scheut es nicht, er geht durchaus in's Detail und sorgt <lb n="pvi_1235.013"/> für die Haltung der poetischen Würde durch Ton und Stimmung im Ganzen. <lb n="pvi_1235.014"/> Sicher hätte Schiller den verbannten Romeo nicht die Fliege und die Maus <lb n="pvi_1235.015"/> um Juliens Nähe beneiden lassen und doch gehört dieß nicht unter Shakespeare's <lb n="pvi_1235.016"/> Geschmacksverletzungen, sondern ist nur genau wahr gefühlt; und <lb n="pvi_1235.017"/> wenn Shylock sein böses Wollen mit der Thatsache gewisser Jdiosynkrasieen <lb n="pvi_1235.018"/> belegt, die er so speziell aufführt („es gibt der Leute, die kein grunzend <lb n="pvi_1235.019"/> Ferkel ausstehen können“ u. s. w. Act 4, Sc. 1), so geschieht dieß zwar in <lb n="pvi_1235.020"/> einer Komödie, doch im ängstlich spannenden Theile derselben, und kein <lb n="pvi_1235.021"/> Dichter der classicirenden Richtung hätte einen finstern Charakter, der doch <lb n="pvi_1235.022"/> etwas Tragisches hat, in seiner Rede so detaillirt. Solche Züge sind aber <lb n="pvi_1235.023"/> nur vereinzelte Merkmale der Zeichnung des Charakters, der Leidenschaft, <lb n="pvi_1235.024"/> der Handlung und aller Dinge, wie sie im charakteristischen Styl vorneherein <lb n="pvi_1235.025"/> darauf angelegt wird, die Eigenheit der Züge bis in's Kleine mitaufzunehmen, <lb n="pvi_1235.026"/> mag dieß auch im ernsten Zusammenhang so oder so in das <lb n="pvi_1235.027"/> Komische auslaufen. Dasselbe spricht sich denn auch im Bildlichen aus. <lb n="pvi_1235.028"/> Wenn Hamlet in einer hochtragischen Scene, in der äußersten Spannung <lb n="pvi_1235.029"/> des Gemüths und aller Nerven dem Geiste seines Vaters zuruft: brav <lb n="pvi_1235.030"/> gearbeitet, wackerer Maulwurf! so ist dieser Absprung in das Platte allen <lb n="pvi_1235.031"/> denen, welche im Sinne des directen Jdealismus auffassen, rein ungenießbar; <lb n="pvi_1235.032"/> sie verstehen nicht, wie recht wohl Shakespeare weiß, daß das platt ist, und <lb n="pvi_1235.033"/> wie er es gerade darum seinem tragischen Humoristen in den Mund legt; <lb n="pvi_1235.034"/> man kann recht wohl die verborgen arbeitende Macht, die endlich eine <lb n="pvi_1235.035"/> Unthat an das Licht bringt, mit dem stillen Wühlen eines Maulwurfs <lb n="pvi_1235.036"/> vergleichen, ja Hegel wendet die Stelle treffend auf den Geist in der Weltgeschichte <lb n="pvi_1235.037"/> an, wie er lange in unsichtbarer Tiefe thätig ist, aber in den <lb n="pvi_1235.038"/> großen Momenten der Krise sich an das Licht herausarbeitet; freilich liegt <lb n="pvi_1235.039"/> trotz der Wahrheit des Vergleichungspunctes wegen der übrigen Kleinheit <lb n="pvi_1235.040"/> des Bildes eine komische Jncongruenz darin, diese aber ist gerade beabsichtigt, <lb n="pvi_1235.041"/> um durch die Jronie des weiten Abstands die Hoheit des Verglichenen </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1235/0097]
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Hier namentlich ist das Beispiel der Malerei belehrend, der Gegensatz pvi_1235.002
ist genau derselbe, wie zwischen den großen italienischen Meistern, Raphael pvi_1235.003
an der Spitze, und Rubens, Rembrandt nebst den holländischen Kleinmalern pvi_1235.004
im Sittenbilde. Wir greifen sogleich in's Concrete und führen namentlich pvi_1235.005
einige Beispiele auf, welche zeigen, wie anders der classische gehobene pvi_1235.006
Schiller fühlt, als Shakespeare, der malerische Jndividualist in der Poesie. pvi_1235.007
Bei diesem zählt Makbeth dem Mörder, dem er erwiedert, er sei nur dem pvi_1235.008
Geschlechte nach Mann, wie die furchtsamen kleinern Hunde im Verzeichniß pvi_1235.009
des Hundegeschlechts freilich auch mitlaufen, neun Raçen auf, Schiller in pvi_1235.010
seiner Uebersetzung hält bei der zweiten inne: der classische Styl, der auf pvi_1235.011
dem Kothurne geht, fürchtet durch engeres Spezialisiren platt zu werden, pvi_1235.012
der charakteristische scheut es nicht, er geht durchaus in's Detail und sorgt pvi_1235.013
für die Haltung der poetischen Würde durch Ton und Stimmung im Ganzen. pvi_1235.014
Sicher hätte Schiller den verbannten Romeo nicht die Fliege und die Maus pvi_1235.015
um Juliens Nähe beneiden lassen und doch gehört dieß nicht unter Shakespeare's pvi_1235.016
Geschmacksverletzungen, sondern ist nur genau wahr gefühlt; und pvi_1235.017
wenn Shylock sein böses Wollen mit der Thatsache gewisser Jdiosynkrasieen pvi_1235.018
belegt, die er so speziell aufführt („es gibt der Leute, die kein grunzend pvi_1235.019
Ferkel ausstehen können“ u. s. w. Act 4, Sc. 1), so geschieht dieß zwar in pvi_1235.020
einer Komödie, doch im ängstlich spannenden Theile derselben, und kein pvi_1235.021
Dichter der classicirenden Richtung hätte einen finstern Charakter, der doch pvi_1235.022
etwas Tragisches hat, in seiner Rede so detaillirt. Solche Züge sind aber pvi_1235.023
nur vereinzelte Merkmale der Zeichnung des Charakters, der Leidenschaft, pvi_1235.024
der Handlung und aller Dinge, wie sie im charakteristischen Styl vorneherein pvi_1235.025
darauf angelegt wird, die Eigenheit der Züge bis in's Kleine mitaufzunehmen, pvi_1235.026
mag dieß auch im ernsten Zusammenhang so oder so in das pvi_1235.027
Komische auslaufen. Dasselbe spricht sich denn auch im Bildlichen aus. pvi_1235.028
Wenn Hamlet in einer hochtragischen Scene, in der äußersten Spannung pvi_1235.029
des Gemüths und aller Nerven dem Geiste seines Vaters zuruft: brav pvi_1235.030
gearbeitet, wackerer Maulwurf! so ist dieser Absprung in das Platte allen pvi_1235.031
denen, welche im Sinne des directen Jdealismus auffassen, rein ungenießbar; pvi_1235.032
sie verstehen nicht, wie recht wohl Shakespeare weiß, daß das platt ist, und pvi_1235.033
wie er es gerade darum seinem tragischen Humoristen in den Mund legt; pvi_1235.034
man kann recht wohl die verborgen arbeitende Macht, die endlich eine pvi_1235.035
Unthat an das Licht bringt, mit dem stillen Wühlen eines Maulwurfs pvi_1235.036
vergleichen, ja Hegel wendet die Stelle treffend auf den Geist in der Weltgeschichte pvi_1235.037
an, wie er lange in unsichtbarer Tiefe thätig ist, aber in den pvi_1235.038
großen Momenten der Krise sich an das Licht herausarbeitet; freilich liegt pvi_1235.039
trotz der Wahrheit des Vergleichungspunctes wegen der übrigen Kleinheit pvi_1235.040
des Bildes eine komische Jncongruenz darin, diese aber ist gerade beabsichtigt, pvi_1235.041
um durch die Jronie des weiten Abstands die Hoheit des Verglichenen
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