Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1429.001 §. 914. pvi_1429.002Sämmtliche Stoffgebiete, Auffassungen und Stylrichtungen können sich im pvi_1429.003 Es ist wiederholt gesagt worden, daß ein Drama tragisch zu nennen pvi_1429.012 pvi_1429.001 §. 914. pvi_1429.002Sämmtliche Stoffgebiete, Auffassungen und Stylrichtungen können sich im pvi_1429.003 Es ist wiederholt gesagt worden, daß ein Drama tragisch zu nennen pvi_1429.012 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0291" n="1429"/> <lb n="pvi_1429.001"/> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 914.</hi> </p> <lb n="pvi_1429.002"/> <p> Sämmtliche Stoffgebiete, Auffassungen und Stylrichtungen können sich im <lb n="pvi_1429.003"/> <hi rendition="#g">negativ oder positiv Tragischen</hi> bewegen und es läßt sich nur bedingt <lb n="pvi_1429.004"/> aussprechen, daß der Schauplatz des bürgerlichen und Privatlebens im Allgemeinen <lb n="pvi_1429.005"/> mehr die zweite Form zu begründen geeignet sei. Wichtig ist neben <lb n="pvi_1429.006"/> der größeren oder minderen objectiven Härte des Conflicts der Unterschied der <lb n="pvi_1429.007"/> Charaktere, indem der freiere, sittlich harmonische das Mittel ist, auch den <lb n="pvi_1429.008"/> schwereren Conflict glücklich zu lösen. Je fühlbarer dieser Schluß von Anfang <lb n="pvi_1429.009"/> an gesichert erscheint, desto stärkere Einmischung des Komischen ist gerechtfertigt; <lb n="pvi_1429.010"/> womit aber auch der Uebergang in die Komödie eintritt.</p> <lb n="pvi_1429.011"/> <p> <hi rendition="#et"> Es ist wiederholt gesagt worden, daß ein Drama tragisch zu nennen <lb n="pvi_1429.012"/> ist, mag der Ausgang auch ein glücklicher sein, wofern nur der endliche <lb n="pvi_1429.013"/> Sieg einer guten Sache als Werk einer Weltordnung sich darstellt, die den <lb n="pvi_1429.014"/> Helden durch Leiden führt, in denen er als ein nicht schuldloses, vielmehr <lb n="pvi_1429.015"/> der Prüfung und Läuterung bedürftiges Werkzeug derselben erscheint. Es <lb n="pvi_1429.016"/> bleibt aber dennoch dabei, daß das negativ Tragische die wahrere, tiefere, <lb n="pvi_1429.017"/> bedeutendere Form ist. Die Geschichte hat Momente, wo sie einer versöhnten <lb n="pvi_1429.018"/> Weltanschauung, dem Glauben an den Sieg des freien und guten <lb n="pvi_1429.019"/> Geistes schon durch den Stoff entgegenkommt; ein solcher Stoff ist der des <lb n="pvi_1429.020"/> W. Tell. Allein die Dichtkunst faßt die Geschichte als bewegtes Ganzes auf, <lb n="pvi_1429.021"/> behält im Auge, daß es kein ruhendes Vollkommenes gibt, und premirt auf <lb n="pvi_1429.022"/> diesem Standpuncte das negative Moment der Bewegung, den Kampf, <lb n="pvi_1429.023"/> worin jede einzelne Kraft im Leiden bekennen muß, daß sie nicht rein, daß <lb n="pvi_1429.024"/> sie nicht das Ganze ist, und darum zieht sie es vor, den ewig neuen Sieg <lb n="pvi_1429.025"/> im ewigen Kampfe nur in der Perspective zu zeigen. Die dramatische <lb n="pvi_1429.026"/> Literatur hat daher nur wenige bedeutende Dramen mit glücklichem Ausgang <lb n="pvi_1429.027"/> aufzuweisen. Daß die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft und des Privatlebens <lb n="pvi_1429.028"/> zu einem solchen eher neige, läßt sich nicht objectiv, sondern nur <lb n="pvi_1429.029"/> subjectiv behaupten; d. h. sofern die weniger heroisch gehobene Stimmung <lb n="pvi_1429.030"/> dieser Stoffe es mit sich bringen mag, daß der Dichter den schneidenden <lb n="pvi_1429.031"/> Conflicten aus dem Wege geht, an denen es natürlich in beiden Gebieten <lb n="pvi_1429.032"/> nicht fehlt. Das im engeren Sinne sogenannte Schauspiel, das bürgerliche <lb n="pvi_1429.033"/> Rührstück, bedurfte den glücklichen Schluß, nachdem es seinen Standpunct <lb n="pvi_1429.034"/> in einer trivialen Ansicht von der göttlichen Gerechtigkeit genommen hatte, <lb n="pvi_1429.035"/> als wäre sie juristische Belohnung und Bestrafung (vergl. §. 128, Anm. 2.). <lb n="pvi_1429.036"/> Sie kannte keine wirkliche, nothwendige Conflicte, dieß und die in's Kleine <lb n="pvi_1429.037"/> malende Art des charakteristischen Styls war eigentlich komödisch und es ist <lb n="pvi_1429.038"/> nur Schade, daß so viel Gutes, wie es sich in jener Literatur findet, nicht <lb n="pvi_1429.039"/> im Zusammenhange von Komödien steht. Jn seinem Nathan vergißt Lessing, <lb n="pvi_1429.040"/> welchen schweren Conflict zwischen dem Fanatismus des Christenthums und </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1429/0291]
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§. 914.
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Sämmtliche Stoffgebiete, Auffassungen und Stylrichtungen können sich im pvi_1429.003
negativ oder positiv Tragischen bewegen und es läßt sich nur bedingt pvi_1429.004
aussprechen, daß der Schauplatz des bürgerlichen und Privatlebens im Allgemeinen pvi_1429.005
mehr die zweite Form zu begründen geeignet sei. Wichtig ist neben pvi_1429.006
der größeren oder minderen objectiven Härte des Conflicts der Unterschied der pvi_1429.007
Charaktere, indem der freiere, sittlich harmonische das Mittel ist, auch den pvi_1429.008
schwereren Conflict glücklich zu lösen. Je fühlbarer dieser Schluß von Anfang pvi_1429.009
an gesichert erscheint, desto stärkere Einmischung des Komischen ist gerechtfertigt; pvi_1429.010
womit aber auch der Uebergang in die Komödie eintritt.
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Es ist wiederholt gesagt worden, daß ein Drama tragisch zu nennen pvi_1429.012
ist, mag der Ausgang auch ein glücklicher sein, wofern nur der endliche pvi_1429.013
Sieg einer guten Sache als Werk einer Weltordnung sich darstellt, die den pvi_1429.014
Helden durch Leiden führt, in denen er als ein nicht schuldloses, vielmehr pvi_1429.015
der Prüfung und Läuterung bedürftiges Werkzeug derselben erscheint. Es pvi_1429.016
bleibt aber dennoch dabei, daß das negativ Tragische die wahrere, tiefere, pvi_1429.017
bedeutendere Form ist. Die Geschichte hat Momente, wo sie einer versöhnten pvi_1429.018
Weltanschauung, dem Glauben an den Sieg des freien und guten pvi_1429.019
Geistes schon durch den Stoff entgegenkommt; ein solcher Stoff ist der des pvi_1429.020
W. Tell. Allein die Dichtkunst faßt die Geschichte als bewegtes Ganzes auf, pvi_1429.021
behält im Auge, daß es kein ruhendes Vollkommenes gibt, und premirt auf pvi_1429.022
diesem Standpuncte das negative Moment der Bewegung, den Kampf, pvi_1429.023
worin jede einzelne Kraft im Leiden bekennen muß, daß sie nicht rein, daß pvi_1429.024
sie nicht das Ganze ist, und darum zieht sie es vor, den ewig neuen Sieg pvi_1429.025
im ewigen Kampfe nur in der Perspective zu zeigen. Die dramatische pvi_1429.026
Literatur hat daher nur wenige bedeutende Dramen mit glücklichem Ausgang pvi_1429.027
aufzuweisen. Daß die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft und des Privatlebens pvi_1429.028
zu einem solchen eher neige, läßt sich nicht objectiv, sondern nur pvi_1429.029
subjectiv behaupten; d. h. sofern die weniger heroisch gehobene Stimmung pvi_1429.030
dieser Stoffe es mit sich bringen mag, daß der Dichter den schneidenden pvi_1429.031
Conflicten aus dem Wege geht, an denen es natürlich in beiden Gebieten pvi_1429.032
nicht fehlt. Das im engeren Sinne sogenannte Schauspiel, das bürgerliche pvi_1429.033
Rührstück, bedurfte den glücklichen Schluß, nachdem es seinen Standpunct pvi_1429.034
in einer trivialen Ansicht von der göttlichen Gerechtigkeit genommen hatte, pvi_1429.035
als wäre sie juristische Belohnung und Bestrafung (vergl. §. 128, Anm. 2.). pvi_1429.036
Sie kannte keine wirkliche, nothwendige Conflicte, dieß und die in's Kleine pvi_1429.037
malende Art des charakteristischen Styls war eigentlich komödisch und es ist pvi_1429.038
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im Zusammenhange von Komödien steht. Jn seinem Nathan vergißt Lessing, pvi_1429.040
welchen schweren Conflict zwischen dem Fanatismus des Christenthums und
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