Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1428.001 §. 913. pvi_1428.007Die classisch ideale Stylrichtung steht in natürlichem Anziehungsverhältniß pvi_1428.008 Die Stylfrage, deren geschichtliche Beleuchtung wir vorangeschickt haben, pvi_1428.017
pvi_1428.001 §. 913. pvi_1428.007Die classisch ideale Stylrichtung steht in natürlichem Anziehungsverhältniß pvi_1428.008 Die Stylfrage, deren geschichtliche Beleuchtung wir vorangeschickt haben, pvi_1428.017 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0290" n="1428"/><lb n="pvi_1428.001"/> unserer Cultur allzufern liegende Collisionen statt tiefwurzelnder behandelt <lb n="pvi_1428.002"/> werden. – Die Tragödie des engeren Privatlebens endlich kann sich doch auch <lb n="pvi_1428.003"/> zur Hervorstellung des Prinzipiellen hinneigen, wenn z. B. in Collisionen wie <lb n="pvi_1428.004"/> zwischen Liebe und Ehre, Liebe und Kindespflicht das Gewicht von der besondern <lb n="pvi_1428.005"/> Färbung der Charaktere mehr auf das allgemein Sittliche verlegt ist.</hi> </p> </div> <lb n="pvi_1428.006"/> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 913.</hi> </p> <lb n="pvi_1428.007"/> <p> Die classisch ideale <hi rendition="#g">Stylrichtung</hi> steht in natürlichem Anziehungsverhältniß <lb n="pvi_1428.008"/> zu den sagenhaft heroischen und historisch politischen Stoffen, die naturalistische <lb n="pvi_1428.009"/> und individualisirende zu denen des bürgerlichen und Privat-Lebens. <lb n="pvi_1428.010"/> Allein auch dieß Verhältniß ist kein ausschließliches; insbesondere ist im letzteren <lb n="pvi_1428.011"/> Styl eine dem idealen Schwunge des ersteren bei allem Gegensatze tief verwandte <lb n="pvi_1428.012"/> oder durch Aneignung desselben erhöhte Form von einer im engeren <lb n="pvi_1428.013"/> Sinne naturalistischen zu unterscheiden, die sich zu den Stoffgebieten so verhalten, <lb n="pvi_1428.014"/> daß jene auch den großen Gegenständen der zwei ersten, diese nur den <lb n="pvi_1428.015"/> weniger erhabenen der andern Sphären angemessen ist.</p> <lb n="pvi_1428.016"/> <p> <hi rendition="#et"> Die Stylfrage, deren geschichtliche Beleuchtung wir vorangeschickt haben, <lb n="pvi_1428.017"/> tritt also jetzt als ein Moment in der Eintheilung der Formen ein. Der <lb n="pvi_1428.018"/> erste Satz des §. bedarf keiner Erörterung und wir wenden uns sogleich <lb n="pvi_1428.019"/> zu dem tiefen Unterschiede innerhalb des charakteristischen Styls, den der <lb n="pvi_1428.020"/> Schlußsatz zugleich mit seiner Beziehung zu den Stoffgebieten hervorhebt. <lb n="pvi_1428.021"/> Es ist klar, daß unter der Gestalt dieses Styls, die als eine bei allem Gegensatze <lb n="pvi_1428.022"/> doch dem classisch idealen tief verwandte bezeichnet wird, der Shakespeare'sche <lb n="pvi_1428.023"/> verstanden ist. Er steht auf schroff gegenüberliegendem Gipfel <lb n="pvi_1428.024"/> und trägt doch einen Kothurn, der ihn den Griechen ganz ebenbürtig macht. <lb n="pvi_1428.025"/> Er kann und soll sich aber, wie wir gesehen haben, mit dem Formgefühle <lb n="pvi_1428.026"/> des classischen verbinden, noch inniger, als bei Schiller und Göthe. Dieser <lb n="pvi_1428.027"/> geläuterte germanisch charakteristische Styl gehört nun ganz den historischpolitischen <lb n="pvi_1428.028"/> Stoffen; er kann sich aber auch den Stoffen des bürgerlichen <lb n="pvi_1428.029"/> und Privatlebens zuwenden, wie wir an dem reinen Sittenbilde, Göthe's <lb n="pvi_1428.030"/> Tasso, sehen, worin der Umstand, daß der Schauplatz ein Hof ist, an dem <lb n="pvi_1428.031"/> Begriffe der Sphäre nichts verändert, denn mit der politischen Seite des <lb n="pvi_1428.032"/> fürstlichen Standes hat dieß Drama nichts zu schaffen, nur mit der menschlich <lb n="pvi_1428.033"/> sozialen. Jm Großen und Ganzen aber, namentlich wenn es nicht <lb n="pvi_1428.034"/> durch solchen Hintergrund der edelsten Blüthe der Humanität auf den Höhen <lb n="pvi_1428.035"/> der Gesellschaft gehoben ist, führt dieß Gebiet allerdings so viel Nöthigung <lb n="pvi_1428.036"/> mit sich, in die realen, harten, selbst prosaischen Lebensbedingungen tief einzugehen, <lb n="pvi_1428.037"/> daß hiedurch der charakteristische Styl im engeren Sinne der Naturwahrheit <lb n="pvi_1428.038"/> bedingt ist und hiemit auch die prosaische Sprache.</hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1428/0290]
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unserer Cultur allzufern liegende Collisionen statt tiefwurzelnder behandelt pvi_1428.002
werden. – Die Tragödie des engeren Privatlebens endlich kann sich doch auch pvi_1428.003
zur Hervorstellung des Prinzipiellen hinneigen, wenn z. B. in Collisionen wie pvi_1428.004
zwischen Liebe und Ehre, Liebe und Kindespflicht das Gewicht von der besondern pvi_1428.005
Färbung der Charaktere mehr auf das allgemein Sittliche verlegt ist.
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§. 913.
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Die classisch ideale Stylrichtung steht in natürlichem Anziehungsverhältniß pvi_1428.008
zu den sagenhaft heroischen und historisch politischen Stoffen, die naturalistische pvi_1428.009
und individualisirende zu denen des bürgerlichen und Privat-Lebens. pvi_1428.010
Allein auch dieß Verhältniß ist kein ausschließliches; insbesondere ist im letzteren pvi_1428.011
Styl eine dem idealen Schwunge des ersteren bei allem Gegensatze tief verwandte pvi_1428.012
oder durch Aneignung desselben erhöhte Form von einer im engeren pvi_1428.013
Sinne naturalistischen zu unterscheiden, die sich zu den Stoffgebieten so verhalten, pvi_1428.014
daß jene auch den großen Gegenständen der zwei ersten, diese nur den pvi_1428.015
weniger erhabenen der andern Sphären angemessen ist.
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Die Stylfrage, deren geschichtliche Beleuchtung wir vorangeschickt haben, pvi_1428.017
tritt also jetzt als ein Moment in der Eintheilung der Formen ein. Der pvi_1428.018
erste Satz des §. bedarf keiner Erörterung und wir wenden uns sogleich pvi_1428.019
zu dem tiefen Unterschiede innerhalb des charakteristischen Styls, den der pvi_1428.020
Schlußsatz zugleich mit seiner Beziehung zu den Stoffgebieten hervorhebt. pvi_1428.021
Es ist klar, daß unter der Gestalt dieses Styls, die als eine bei allem Gegensatze pvi_1428.022
doch dem classisch idealen tief verwandte bezeichnet wird, der Shakespeare'sche pvi_1428.023
verstanden ist. Er steht auf schroff gegenüberliegendem Gipfel pvi_1428.024
und trägt doch einen Kothurn, der ihn den Griechen ganz ebenbürtig macht. pvi_1428.025
Er kann und soll sich aber, wie wir gesehen haben, mit dem Formgefühle pvi_1428.026
des classischen verbinden, noch inniger, als bei Schiller und Göthe. Dieser pvi_1428.027
geläuterte germanisch charakteristische Styl gehört nun ganz den historischpolitischen pvi_1428.028
Stoffen; er kann sich aber auch den Stoffen des bürgerlichen pvi_1428.029
und Privatlebens zuwenden, wie wir an dem reinen Sittenbilde, Göthe's pvi_1428.030
Tasso, sehen, worin der Umstand, daß der Schauplatz ein Hof ist, an dem pvi_1428.031
Begriffe der Sphäre nichts verändert, denn mit der politischen Seite des pvi_1428.032
fürstlichen Standes hat dieß Drama nichts zu schaffen, nur mit der menschlich pvi_1428.033
sozialen. Jm Großen und Ganzen aber, namentlich wenn es nicht pvi_1428.034
durch solchen Hintergrund der edelsten Blüthe der Humanität auf den Höhen pvi_1428.035
der Gesellschaft gehoben ist, führt dieß Gebiet allerdings so viel Nöthigung pvi_1428.036
mit sich, in die realen, harten, selbst prosaischen Lebensbedingungen tief einzugehen, pvi_1428.037
daß hiedurch der charakteristische Styl im engeren Sinne der Naturwahrheit pvi_1428.038
bedingt ist und hiemit auch die prosaische Sprache.
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