Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1413.001 §. 907. pvi_1413.032Der charakteristische Styl des modernen Drama's stellt sich, ohne auf pvi_1413.033
pvi_1413.001 §. 907. pvi_1413.032Der charakteristische Styl des modernen Drama's stellt sich, ohne auf pvi_1413.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0275" n="1413"/><lb n="pvi_1413.001"/> die alte Komödie doch ein blos beziehungsweiser: die neuere Komödie der <lb n="pvi_1413.002"/> Alten generalisirt mehr, als sie individualisirt, ihre Sklaven, Schmarotzer, <lb n="pvi_1413.003"/> geprellten Väter, leichtsinnigen Söhne, Dirnen, soldatischen Aufschneider, <lb n="pvi_1413.004"/> Trunkenbolde u. s. w. sind mehr Masken, als wirkliche Einzelwesen, und <lb n="pvi_1413.005"/> es wird dieß folgenreich für den Uebertritt des classischen Styls in den <lb n="pvi_1413.006"/> wesentlich charakteristischen modernen durch den Einfluß des Abbilds der <lb n="pvi_1413.007"/> neueren Komödie der Griechen, der römischen, auf die romanische Literatur. <lb n="pvi_1413.008"/> Obwohl nach dieser Seite nur ein relativer Gegensatz, konnte eine solche <lb n="pvi_1413.009"/> Form doch im Alterthum nicht gleichzeitig mit der rein classischen auftreten, <lb n="pvi_1413.010"/> dort ist der Unterschied vielmehr ein successiver und es verhält sich damit wie <lb n="pvi_1413.011"/> mit dem Uebergange der antiken Plastik und Malerei in das Realistische, <lb n="pvi_1413.012"/> Sittenbildliche; die Erscheinung ist aber als geschichtliches Vorbild eines <lb n="pvi_1413.013"/> bleibenden, der weitern, logischen Eintheilung angehörigen Gegensatzes <lb n="pvi_1413.014"/> durchaus wichtig und wesentlich. Ein ähnlicher Gegensatz tritt nun, ebenfalls <lb n="pvi_1413.015"/> geschichtlich, auch in der antiken Tragödie ein, denn Euripides faßt <lb n="pvi_1413.016"/> die Menschen schon empirisch, subjectiv, psychologisch, vielseitig, reicher colorirt, <lb n="pvi_1413.017"/> skeptisch; aber diese Behandlung steht im Widerspruche mit dem großen <lb n="pvi_1413.018"/> heroisch mythischen Stoffe, der doch beibehalten ist, und so gelangt auf <lb n="pvi_1413.019"/> diesem Boden die Stylwendung nicht zu derselben Bestimmtheit, wie auf <lb n="pvi_1413.020"/> dem komischen. Jn schwacher Andeutung ist allerdings ein Styl-Gegensatz <lb n="pvi_1413.021"/> auch als ein gleichzeitiger wahrzunehmen, und zwar in der Eintheilung der <lb n="pvi_1413.022"/> Arten der Tragödie bei Aristoteles (Poetik C. 18.); denn die ethische Art, <lb n="pvi_1413.023"/> die er unter den andern aufzählt, ist sittenbildlich, charakteristisch und der <lb n="pvi_1413.024"/> Peleus, den er neben den Phthiotiden als Beispiel anführt, war nicht <lb n="pvi_1413.025"/> nur von Euripides, sondern auch von Sophokles behandelt. Allein diese <lb n="pvi_1413.026"/> Form war wenig ausgebildet und das psychologische, rein menschliche Gemälde, <lb n="pvi_1413.027"/> auf das sie schließen läßt, konnte entfernt nicht bis zu einer <lb n="pvi_1413.028"/> Ausbildung des Charakteristischen gehen, die einen so entschiedenen Gegensatz <lb n="pvi_1413.029"/> der Stylrichtung innerhalb des Antiken darstellte, wie die neuere <lb n="pvi_1413.030"/> Komödie.</hi> </p> </div> <lb n="pvi_1413.031"/> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 907.</hi> </p> <lb n="pvi_1413.032"/> <p> Der <hi rendition="#g">charakteristische</hi> Styl des <hi rendition="#g">modernen</hi> Drama's stellt sich, ohne auf <lb n="pvi_1413.033"/> die sagenhaften Stoffe zu verzichten, auf den Boden der naturgemäßen Wirklichkeit <lb n="pvi_1413.034"/> des politischen, bürgerlichen, oder Privatlebens und entwickelt aus der <lb n="pvi_1413.035"/> tieferen, auf prinzipielle Umgestaltung des Bestehenden schneidender gerichteten <lb n="pvi_1413.036"/> Subjectivität vielseitiger, eine scheinbar widerspruchsvolle Einheit darstellender <lb n="pvi_1413.037"/> und in härtere Einzelzüge auslaufender Charaktere in organischem Anwachsen <lb n="pvi_1413.038"/> eine reichere, verzweigtere, größere Personenzahl fordernde Handlung. Das <lb n="pvi_1413.039"/> Schicksal ergibt sich als immanentes Gesetz aus den Wirkungen und Gegenwirkungen <lb n="pvi_1413.040"/> der Freiheit. Der Chor, die Verbindung des Drama mit Lyrik, </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1413/0275]
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die alte Komödie doch ein blos beziehungsweiser: die neuere Komödie der pvi_1413.002
Alten generalisirt mehr, als sie individualisirt, ihre Sklaven, Schmarotzer, pvi_1413.003
geprellten Väter, leichtsinnigen Söhne, Dirnen, soldatischen Aufschneider, pvi_1413.004
Trunkenbolde u. s. w. sind mehr Masken, als wirkliche Einzelwesen, und pvi_1413.005
es wird dieß folgenreich für den Uebertritt des classischen Styls in den pvi_1413.006
wesentlich charakteristischen modernen durch den Einfluß des Abbilds der pvi_1413.007
neueren Komödie der Griechen, der römischen, auf die romanische Literatur. pvi_1413.008
Obwohl nach dieser Seite nur ein relativer Gegensatz, konnte eine solche pvi_1413.009
Form doch im Alterthum nicht gleichzeitig mit der rein classischen auftreten, pvi_1413.010
dort ist der Unterschied vielmehr ein successiver und es verhält sich damit wie pvi_1413.011
mit dem Uebergange der antiken Plastik und Malerei in das Realistische, pvi_1413.012
Sittenbildliche; die Erscheinung ist aber als geschichtliches Vorbild eines pvi_1413.013
bleibenden, der weitern, logischen Eintheilung angehörigen Gegensatzes pvi_1413.014
durchaus wichtig und wesentlich. Ein ähnlicher Gegensatz tritt nun, ebenfalls pvi_1413.015
geschichtlich, auch in der antiken Tragödie ein, denn Euripides faßt pvi_1413.016
die Menschen schon empirisch, subjectiv, psychologisch, vielseitig, reicher colorirt, pvi_1413.017
skeptisch; aber diese Behandlung steht im Widerspruche mit dem großen pvi_1413.018
heroisch mythischen Stoffe, der doch beibehalten ist, und so gelangt auf pvi_1413.019
diesem Boden die Stylwendung nicht zu derselben Bestimmtheit, wie auf pvi_1413.020
dem komischen. Jn schwacher Andeutung ist allerdings ein Styl-Gegensatz pvi_1413.021
auch als ein gleichzeitiger wahrzunehmen, und zwar in der Eintheilung der pvi_1413.022
Arten der Tragödie bei Aristoteles (Poetik C. 18.); denn die ethische Art, pvi_1413.023
die er unter den andern aufzählt, ist sittenbildlich, charakteristisch und der pvi_1413.024
Peleus, den er neben den Phthiotiden als Beispiel anführt, war nicht pvi_1413.025
nur von Euripides, sondern auch von Sophokles behandelt. Allein diese pvi_1413.026
Form war wenig ausgebildet und das psychologische, rein menschliche Gemälde, pvi_1413.027
auf das sie schließen läßt, konnte entfernt nicht bis zu einer pvi_1413.028
Ausbildung des Charakteristischen gehen, die einen so entschiedenen Gegensatz pvi_1413.029
der Stylrichtung innerhalb des Antiken darstellte, wie die neuere pvi_1413.030
Komödie.
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§. 907.
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Der charakteristische Styl des modernen Drama's stellt sich, ohne auf pvi_1413.033
die sagenhaften Stoffe zu verzichten, auf den Boden der naturgemäßen Wirklichkeit pvi_1413.034
des politischen, bürgerlichen, oder Privatlebens und entwickelt aus der pvi_1413.035
tieferen, auf prinzipielle Umgestaltung des Bestehenden schneidender gerichteten pvi_1413.036
Subjectivität vielseitiger, eine scheinbar widerspruchsvolle Einheit darstellender pvi_1413.037
und in härtere Einzelzüge auslaufender Charaktere in organischem Anwachsen pvi_1413.038
eine reichere, verzweigtere, größere Personenzahl fordernde Handlung. Das pvi_1413.039
Schicksal ergibt sich als immanentes Gesetz aus den Wirkungen und Gegenwirkungen pvi_1413.040
der Freiheit. Der Chor, die Verbindung des Drama mit Lyrik,
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