Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1388.001 §. 900. pvi_1388.017Jn derselben Form des gegenwärtigen Entstehens einer Handlung aus pvi_1388.018 Der §. nimmt seinen ersten Satz aus dem Schlusse der Anm. zum pvi_1388.027
pvi_1388.001 §. 900. pvi_1388.017Jn derselben Form des gegenwärtigen Entstehens einer Handlung aus pvi_1388.018 Der §. nimmt seinen ersten Satz aus dem Schlusse der Anm. zum pvi_1388.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0250" n="1388"/><lb n="pvi_1388.001"/> Wir dürfen schon hier, obwohl wir diesen Punct an seinem Orte noch <lb n="pvi_1388.002"/> ausdrücklich in's Auge fassen müssen, unsern Satz durch die Erscheinung <lb n="pvi_1388.003"/> im Gebiete der Komödie beleuchten, daß man so häufig humoristische Charakterschöpfung <lb n="pvi_1388.004"/> ohne lebendigen Gang und Wirkung der Fabel oder wohl <lb n="pvi_1388.005"/> angelegte Jntrigue bei dürftiger Charakterzeichnung findet. Das Talent <lb n="pvi_1388.006"/> der Charakterschöpfung ist an sich bedeutender, als das der Fabelschöpfung, <lb n="pvi_1388.007"/> aber Angesichts der spezifischen Forderung der Dichtungsart ist das letztere <lb n="pvi_1388.008"/> das strenger geforderte und so allerdings das vorzüglichere. Doch wir haben <lb n="pvi_1388.009"/> hier zunächst das ernste, das tragische Schicksal im Auge, und bemerken noch <lb n="pvi_1388.010"/> zum Schlußsatze des §.: im Drama muß das Tragische darum am vollsten <lb n="pvi_1388.011"/> und reinsten zur Darstellung kommen, weil seine ganze Majestät aus dem <lb n="pvi_1388.012"/> Gange einer gegenwärtigen Handlung sich entwickelt. Das Schicksalsgefühl <lb n="pvi_1388.013"/> ist ein Gefühl des unendlich Drohenden, dann plötzlich Eintretenden, es <lb n="pvi_1388.014"/> wird in seiner ganzen Stärke nur da erweckt, wo vor unsern Augen, jetzt, <lb n="pvi_1388.015"/> in diesem Augenblick das Ungeheure geschieht.</hi> </p> <lb n="pvi_1388.016"/> <p> <hi rendition="#c">§. 900.</hi> </p> <lb n="pvi_1388.017"/> <p> Jn derselben Form des gegenwärtigen Entstehens einer Handlung aus <lb n="pvi_1388.018"/> den Charakteren durch das geistige Mittel der Sprache, wodurch die dramatische <lb n="pvi_1388.019"/> Dicht-Art den tragischen Prozeß in seiner ganzen Tiefe und Straffheit zur Erscheinung <lb n="pvi_1388.020"/> bringt, ist es begründet, daß sie auch sein <hi rendition="#g">komisches</hi> Gegenbild <lb n="pvi_1388.021"/> in einer Vollkommenheit und Selbständigkeit ohne Gleichen zu erzeugen vermag. <lb n="pvi_1388.022"/> Das einfach Schöne in seiner ganzen Anmuth kann sie in diese Bewegungen <lb n="pvi_1388.023"/> stürmischer verwickeln oder unversehrter in sie einflechten. Sie ist daher der <lb n="pvi_1388.024"/> vollendetste Ausdruck der allgemeinen Grundformen des Schönen und auch in <lb n="pvi_1388.025"/> diesem Sinne kehrt durch sie das System in sich selbst zurück.</p> <lb n="pvi_1388.026"/> <p> <hi rendition="#et"> Der §. nimmt seinen ersten Satz aus dem Schlusse der Anm. zum <lb n="pvi_1388.027"/> vorh. §. deßwegen auf, weil für das Komische die Form der Gegenwart <lb n="pvi_1388.028"/> seine ganz besondere Wichtigkeit hat, und ebenso verhält es sich mit dem <lb n="pvi_1388.029"/> Mittel der Sprache, das darum hier ausdrücklich noch einmal betont werden <lb n="pvi_1388.030"/> mußte. Das Komische ist diejenige unter den Grundformen des Schönen, <lb n="pvi_1388.031"/> in welcher am sichtbarsten der Accent nicht auf dem Factischen liegt, sondern <lb n="pvi_1388.032"/> auf dem Bewußtsein, seinen Widersprüchen, ihrer Auflösung. Sein volles, <lb n="pvi_1388.033"/> wahres Bild muß also erst da möglich sein, wo es als komischer Charakter <lb n="pvi_1388.034"/> vor uns tritt, in Redeform sein Jnneres selbst bekennt, so daß wir in die <lb n="pvi_1388.035"/> Widersprüche seines Bewußtseins hineinsehen, daß er in seiner unendlichen <lb n="pvi_1388.036"/> Naivetät gegenwärtig von uns belauscht wird. Er hat wohl die Lauscher <lb n="pvi_1388.037"/> im Stücke um sich, als subjectiv humoristischer Charakter belauscht er sogar <lb n="pvi_1388.038"/> sich selbst, aber der Bruch löst sich darin nicht ganz, der völlig durchsichtige </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1388/0250]
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Wir dürfen schon hier, obwohl wir diesen Punct an seinem Orte noch pvi_1388.002
ausdrücklich in's Auge fassen müssen, unsern Satz durch die Erscheinung pvi_1388.003
im Gebiete der Komödie beleuchten, daß man so häufig humoristische Charakterschöpfung pvi_1388.004
ohne lebendigen Gang und Wirkung der Fabel oder wohl pvi_1388.005
angelegte Jntrigue bei dürftiger Charakterzeichnung findet. Das Talent pvi_1388.006
der Charakterschöpfung ist an sich bedeutender, als das der Fabelschöpfung, pvi_1388.007
aber Angesichts der spezifischen Forderung der Dichtungsart ist das letztere pvi_1388.008
das strenger geforderte und so allerdings das vorzüglichere. Doch wir haben pvi_1388.009
hier zunächst das ernste, das tragische Schicksal im Auge, und bemerken noch pvi_1388.010
zum Schlußsatze des §.: im Drama muß das Tragische darum am vollsten pvi_1388.011
und reinsten zur Darstellung kommen, weil seine ganze Majestät aus dem pvi_1388.012
Gange einer gegenwärtigen Handlung sich entwickelt. Das Schicksalsgefühl pvi_1388.013
ist ein Gefühl des unendlich Drohenden, dann plötzlich Eintretenden, es pvi_1388.014
wird in seiner ganzen Stärke nur da erweckt, wo vor unsern Augen, jetzt, pvi_1388.015
in diesem Augenblick das Ungeheure geschieht.
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§. 900.
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Jn derselben Form des gegenwärtigen Entstehens einer Handlung aus pvi_1388.018
den Charakteren durch das geistige Mittel der Sprache, wodurch die dramatische pvi_1388.019
Dicht-Art den tragischen Prozeß in seiner ganzen Tiefe und Straffheit zur Erscheinung pvi_1388.020
bringt, ist es begründet, daß sie auch sein komisches Gegenbild pvi_1388.021
in einer Vollkommenheit und Selbständigkeit ohne Gleichen zu erzeugen vermag. pvi_1388.022
Das einfach Schöne in seiner ganzen Anmuth kann sie in diese Bewegungen pvi_1388.023
stürmischer verwickeln oder unversehrter in sie einflechten. Sie ist daher der pvi_1388.024
vollendetste Ausdruck der allgemeinen Grundformen des Schönen und auch in pvi_1388.025
diesem Sinne kehrt durch sie das System in sich selbst zurück.
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Der §. nimmt seinen ersten Satz aus dem Schlusse der Anm. zum pvi_1388.027
vorh. §. deßwegen auf, weil für das Komische die Form der Gegenwart pvi_1388.028
seine ganz besondere Wichtigkeit hat, und ebenso verhält es sich mit dem pvi_1388.029
Mittel der Sprache, das darum hier ausdrücklich noch einmal betont werden pvi_1388.030
mußte. Das Komische ist diejenige unter den Grundformen des Schönen, pvi_1388.031
in welcher am sichtbarsten der Accent nicht auf dem Factischen liegt, sondern pvi_1388.032
auf dem Bewußtsein, seinen Widersprüchen, ihrer Auflösung. Sein volles, pvi_1388.033
wahres Bild muß also erst da möglich sein, wo es als komischer Charakter pvi_1388.034
vor uns tritt, in Redeform sein Jnneres selbst bekennt, so daß wir in die pvi_1388.035
Widersprüche seines Bewußtseins hineinsehen, daß er in seiner unendlichen pvi_1388.036
Naivetät gegenwärtig von uns belauscht wird. Er hat wohl die Lauscher pvi_1388.037
im Stücke um sich, als subjectiv humoristischer Charakter belauscht er sogar pvi_1388.038
sich selbst, aber der Bruch löst sich darin nicht ganz, der völlig durchsichtige
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