Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1387.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0249" n="1387"/><lb n="pvi_1387.001"/> diese, als ohne jene möglich. Dieß ist in seiner sinnvoll empirischen Weise <lb n="pvi_1387.002"/> naiv, aber durchaus treffend gesagt; naiv, weil der innere Zusammenhang <lb n="pvi_1387.003"/> zwischen Charakter und Handlung nicht philosophisch entwickelt ist. Es <lb n="pvi_1387.004"/> fehlt das Band, das vom Einen zum Andern führt; es müßte aufgezeigt <lb n="pvi_1387.005"/> sein, wie das Erhabene des Subjects, das zuerst den Vordergrund einnimmt, <lb n="pvi_1387.006"/> dem absolut Erhabenen des Schicksals Platz macht, jedoch nicht so, als ob <lb n="pvi_1387.007"/> beide nur ein Nebeneinander wären und das Erste vom Zweiten äußerlich <lb n="pvi_1387.008"/> verdrängt würde, sondern so, daß das Erhabene des Subjects als Bruchtheil <lb n="pvi_1387.009"/> eines Ganzen erscheint, das in ihm selbst, aber nicht in ihm allein, <lb n="pvi_1387.010"/> sondern in der Vielheit von Jndividuen, zunächst in der ganzen Gruppe <lb n="pvi_1387.011"/> der in dieser Darstellung Vereinigten, in verschiedenen Verhältnissen der <lb n="pvi_1387.012"/> Wechsel-Ergänzung von Recht und Unrecht gegenwärtig ist und von dem <lb n="pvi_1387.013"/> es verschlungen wird, weil es nur Bruchtheil und zwar auf Trennung des <lb n="pvi_1387.014"/> Ganzen ausgehender Bruchtheil war. Dieß ist der tragische Prozeß, wie <lb n="pvi_1387.015"/> er in §. 117 ff. auseinandergesetzt ist, und wir dürfen jetzt auf diesen Abschnitt <lb n="pvi_1387.016"/> mit der einfachen Bemerkung zurückverweisen, daß keine Gestalt der Kunst <lb n="pvi_1387.017"/> diesen Prozeß so rein und scharf zur Erscheinung bringt, als das Drama. <lb n="pvi_1387.018"/> Bei Aristoteles fehlt diese Begriffs-Entwicklung, weil ihm die tiefere Jdee <lb n="pvi_1387.019"/> des Schicksals fehlt, statt welcher er einfach empirisch: Handlung, Umschwung, <lb n="pvi_1387.020"/> Glück und Unglück setzt, und ebenso, weil ihm der tiefere Begriff <lb n="pvi_1387.021"/> des Charakters fehlt, wie er als eine Form desselben allgemeinen Geistes, <lb n="pvi_1387.022"/> der als Schicksal über ihn kommt, sich selbst dieses Schicksal schmiedet, weil <lb n="pvi_1387.023"/> er in den Zusammenhang des Ganzen trennend eingreift. Sein Satz ist <lb n="pvi_1387.024"/> dennoch höchst wichtig und fruchtbar, denn die Geschichte des Drama, namentlich <lb n="pvi_1387.025"/> des neueren, zeigt, wie häufig man der falschen Ansicht folgte, als <lb n="pvi_1387.026"/> ob Charakterzeichnung bei vernachläßigter Handlung schon ein Drama sei. <lb n="pvi_1387.027"/> Dieß heißt für uns: bei dem Erhabenen des Subjects verweilen, statt von <lb n="pvi_1387.028"/> da zum absolut Erhabenen der Weltordnung fortzugehen. Die dramatische <lb n="pvi_1387.029"/> Conception geht nicht von den Charakteren, sondern von der Situation <lb n="pvi_1387.030"/> aus und man kann beobachten, daß dem ächten Dichter häufig das Charakterbild <lb n="pvi_1387.031"/> aus den Bedingungen des Schicksals erwächst. So fordert z. B. <lb n="pvi_1387.032"/> die Handlung im Othello ein Weib, das so wehrlos, so unfähig ist, die <lb n="pvi_1387.033"/> Zunge zu brauchen, daß ihre Unschuld trotz allen Mißhandlungen zu spät <lb n="pvi_1387.034"/> an den Tag kommt. Aus dieser Bedingung ist wie aus einem zarten <lb n="pvi_1387.035"/> Keime dem Dichter ein himmlisches Bild verschleierter, stiller, süßer Seelenschönheit, <lb n="pvi_1387.036"/> reiner Sanftmuth hervorgewachsen. So entwickelt das ächte Genie <lb n="pvi_1387.037"/> den Charakter vorneherein aus dem Schicksal und vereinigt organisch die <lb n="pvi_1387.038"/> Kräfte, welche für diese beiden Seiten erforderlich sind, in richtigem Verhältniß. <lb n="pvi_1387.039"/> Diese Vereinigung ist selten, die Talente und Richtungen sind so <lb n="pvi_1387.040"/> vertheilt, daß Mancher einen Charakter zeichnen, aber keine Handlung, die <lb n="pvi_1387.041"/> vorwärts geht und zu einer großen Entscheidung drängt, componiren kann. </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1387/0249]
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diese, als ohne jene möglich. Dieß ist in seiner sinnvoll empirischen Weise pvi_1387.002
naiv, aber durchaus treffend gesagt; naiv, weil der innere Zusammenhang pvi_1387.003
zwischen Charakter und Handlung nicht philosophisch entwickelt ist. Es pvi_1387.004
fehlt das Band, das vom Einen zum Andern führt; es müßte aufgezeigt pvi_1387.005
sein, wie das Erhabene des Subjects, das zuerst den Vordergrund einnimmt, pvi_1387.006
dem absolut Erhabenen des Schicksals Platz macht, jedoch nicht so, als ob pvi_1387.007
beide nur ein Nebeneinander wären und das Erste vom Zweiten äußerlich pvi_1387.008
verdrängt würde, sondern so, daß das Erhabene des Subjects als Bruchtheil pvi_1387.009
eines Ganzen erscheint, das in ihm selbst, aber nicht in ihm allein, pvi_1387.010
sondern in der Vielheit von Jndividuen, zunächst in der ganzen Gruppe pvi_1387.011
der in dieser Darstellung Vereinigten, in verschiedenen Verhältnissen der pvi_1387.012
Wechsel-Ergänzung von Recht und Unrecht gegenwärtig ist und von dem pvi_1387.013
es verschlungen wird, weil es nur Bruchtheil und zwar auf Trennung des pvi_1387.014
Ganzen ausgehender Bruchtheil war. Dieß ist der tragische Prozeß, wie pvi_1387.015
er in §. 117 ff. auseinandergesetzt ist, und wir dürfen jetzt auf diesen Abschnitt pvi_1387.016
mit der einfachen Bemerkung zurückverweisen, daß keine Gestalt der Kunst pvi_1387.017
diesen Prozeß so rein und scharf zur Erscheinung bringt, als das Drama. pvi_1387.018
Bei Aristoteles fehlt diese Begriffs-Entwicklung, weil ihm die tiefere Jdee pvi_1387.019
des Schicksals fehlt, statt welcher er einfach empirisch: Handlung, Umschwung, pvi_1387.020
Glück und Unglück setzt, und ebenso, weil ihm der tiefere Begriff pvi_1387.021
des Charakters fehlt, wie er als eine Form desselben allgemeinen Geistes, pvi_1387.022
der als Schicksal über ihn kommt, sich selbst dieses Schicksal schmiedet, weil pvi_1387.023
er in den Zusammenhang des Ganzen trennend eingreift. Sein Satz ist pvi_1387.024
dennoch höchst wichtig und fruchtbar, denn die Geschichte des Drama, namentlich pvi_1387.025
des neueren, zeigt, wie häufig man der falschen Ansicht folgte, als pvi_1387.026
ob Charakterzeichnung bei vernachläßigter Handlung schon ein Drama sei. pvi_1387.027
Dieß heißt für uns: bei dem Erhabenen des Subjects verweilen, statt von pvi_1387.028
da zum absolut Erhabenen der Weltordnung fortzugehen. Die dramatische pvi_1387.029
Conception geht nicht von den Charakteren, sondern von der Situation pvi_1387.030
aus und man kann beobachten, daß dem ächten Dichter häufig das Charakterbild pvi_1387.031
aus den Bedingungen des Schicksals erwächst. So fordert z. B. pvi_1387.032
die Handlung im Othello ein Weib, das so wehrlos, so unfähig ist, die pvi_1387.033
Zunge zu brauchen, daß ihre Unschuld trotz allen Mißhandlungen zu spät pvi_1387.034
an den Tag kommt. Aus dieser Bedingung ist wie aus einem zarten pvi_1387.035
Keime dem Dichter ein himmlisches Bild verschleierter, stiller, süßer Seelenschönheit, pvi_1387.036
reiner Sanftmuth hervorgewachsen. So entwickelt das ächte Genie pvi_1387.037
den Charakter vorneherein aus dem Schicksal und vereinigt organisch die pvi_1387.038
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Diese Vereinigung ist selten, die Talente und Richtungen sind so pvi_1387.040
vertheilt, daß Mancher einen Charakter zeichnen, aber keine Handlung, die pvi_1387.041
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