Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1386.001 §. 899. pvi_1386.024Was durch diese Zweckthätigkeit des Willens geschieht, ist im intensiven pvi_1386.025 Aristoteles sagt (Poet. C. 6): die Hauptsache in der Tragödie sei der pvi_1386.034
pvi_1386.001 §. 899. pvi_1386.024Was durch diese Zweckthätigkeit des Willens geschieht, ist im intensiven pvi_1386.025 Aristoteles sagt (Poet. C. 6): die Hauptsache in der Tragödie sei der pvi_1386.034 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0248" n="1386"/><lb n="pvi_1386.001"/> Fälle geben, wo die Hauptperson schwer zu bezeichnen ist und doch die <lb n="pvi_1386.002"/> Einheit nicht leidet; ein solcher ist Shakespeare's Jul. Cäsar, wo der Held, <lb n="pvi_1386.003"/> der dem Stücke den Namen gegeben, früh untergeht und Brutus zum Helden <lb n="pvi_1386.004"/> des Stücks wird, während doch sein und seiner Verbündeten Leiden und <lb n="pvi_1386.005"/> die Niederlage der republikanischen Jdee als ein Fortwirken des Gemordeten, <lb n="pvi_1386.006"/> eine Handlung seiner Manen erscheint. Wo das Pathos der Liebe den <lb n="pvi_1386.007"/> Jnhalt bildet, treten zwei Personen, die in der Unendlichkeit ihrer idealen <lb n="pvi_1386.008"/> Leidenschaft zu Einer werden, so vereinigt in den Vordergrund, daß man <lb n="pvi_1386.009"/> zweifeln kann, ob der wagende Jüngling oder das zur Heldinn gewordene <lb n="pvi_1386.010"/> Weib die Hauptperson ist, wie in Romeo und Julie. Der Charakter, welcher <lb n="pvi_1386.011"/> an der Spitze der Gegenseite steht, gegen welche der dramatische Held kämpft, <lb n="pvi_1386.012"/> wird häufig schärfer gezeichnet erscheinen, als dieser, denn er vertritt die <lb n="pvi_1386.013"/> verhärtete Gestalt des Bestehenden, die herbe Welt des Verstandes oder das <lb n="pvi_1386.014"/> Böse, die Jntrigue, während jener durch das phantasievoll Geniale seines <lb n="pvi_1386.015"/> Wollens jugendlicher erscheint, ohne darum das Prädicat der schwungvolleren <lb n="pvi_1386.016"/> Energie zu verlieren; so ist selbst das Weib Antigone in der Handlung der <lb n="pvi_1386.017"/> Tragödie doch unzweifelhaft der Hauptcharakter gegenüber dem starren, <lb n="pvi_1386.018"/> harten Männercharakter Kreon's. Man erkennt daraus, wie hier Alles auf <lb n="pvi_1386.019"/> die Stellung ankommt, die ein Charakter in der gegenwärtigen Handlung <lb n="pvi_1386.020"/> einnimmt, denn Hauptperson ist, wer die vollste Kraft in die Durchführung <lb n="pvi_1386.021"/> des Zweckes setzt, um den jene sich dreht. Dieß führt auf den wahren <lb n="pvi_1386.022"/> Einheitspunct im Drama.</hi> </p> <lb n="pvi_1386.023"/> <p> <hi rendition="#c">§. 899.</hi> </p> <lb n="pvi_1386.024"/> <p> Was durch diese Zweckthätigkeit des Willens geschieht, ist im intensiven <lb n="pvi_1386.025"/> Sinne des Wortes <hi rendition="#g">Handlung,</hi> eine Reihe von Thaten mit einer entscheidenden <lb n="pvi_1386.026"/> That im Mittelpuncte. Durch sie bereiten sich die Personen ihr <hi rendition="#g">Schicksal.</hi> <lb n="pvi_1386.027"/> Dieses geht aus dem Kampfe der Wirkungen und Gegenwirkungen als das <lb n="pvi_1386.028"/> dem Ganzen dieser Bewegung vorher verborgen inwohnende Gesetz hervor, stellt <lb n="pvi_1386.029"/> sich als das wahrhaft Herrschende, als das wahre Subject der Handlung heraus <lb n="pvi_1386.030"/> und zieht also das Haupt-Jnteresse, welchem sich nun das für die Charaktere <lb n="pvi_1386.031"/> unterordnet, auf sich. Keine Form der Kunst ist so ganz, wie das Drama, <lb n="pvi_1386.032"/> zur Darstellung des <hi rendition="#g">Tragischen</hi> berufen.</p> <lb n="pvi_1386.033"/> <p> <hi rendition="#et"> Aristoteles sagt (Poet. C. 6): die Hauptsache in der Tragödie sei der <lb n="pvi_1386.034"/> Mythus, die Zusammenstellung der Begebenheiten, denn diese Dichtungsart <lb n="pvi_1386.035"/> sei eine Nachahmung nicht von Personen, sondern von Handlungen, Lebensverhältnissen, <lb n="pvi_1386.036"/> Glück und Unglück, ihr Ziel sei eine Handlung, nicht eine <lb n="pvi_1386.037"/> Beschaffenheit; die Handlung sei nicht da zum Zwecke der Sittendarstellung, <lb n="pvi_1386.038"/> sondern ihretwegen werde diese mitumfaßt, und eher sei eine Tragödie ohne </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1386/0248]
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Fälle geben, wo die Hauptperson schwer zu bezeichnen ist und doch die pvi_1386.002
Einheit nicht leidet; ein solcher ist Shakespeare's Jul. Cäsar, wo der Held, pvi_1386.003
der dem Stücke den Namen gegeben, früh untergeht und Brutus zum Helden pvi_1386.004
des Stücks wird, während doch sein und seiner Verbündeten Leiden und pvi_1386.005
die Niederlage der republikanischen Jdee als ein Fortwirken des Gemordeten, pvi_1386.006
eine Handlung seiner Manen erscheint. Wo das Pathos der Liebe den pvi_1386.007
Jnhalt bildet, treten zwei Personen, die in der Unendlichkeit ihrer idealen pvi_1386.008
Leidenschaft zu Einer werden, so vereinigt in den Vordergrund, daß man pvi_1386.009
zweifeln kann, ob der wagende Jüngling oder das zur Heldinn gewordene pvi_1386.010
Weib die Hauptperson ist, wie in Romeo und Julie. Der Charakter, welcher pvi_1386.011
an der Spitze der Gegenseite steht, gegen welche der dramatische Held kämpft, pvi_1386.012
wird häufig schärfer gezeichnet erscheinen, als dieser, denn er vertritt die pvi_1386.013
verhärtete Gestalt des Bestehenden, die herbe Welt des Verstandes oder das pvi_1386.014
Böse, die Jntrigue, während jener durch das phantasievoll Geniale seines pvi_1386.015
Wollens jugendlicher erscheint, ohne darum das Prädicat der schwungvolleren pvi_1386.016
Energie zu verlieren; so ist selbst das Weib Antigone in der Handlung der pvi_1386.017
Tragödie doch unzweifelhaft der Hauptcharakter gegenüber dem starren, pvi_1386.018
harten Männercharakter Kreon's. Man erkennt daraus, wie hier Alles auf pvi_1386.019
die Stellung ankommt, die ein Charakter in der gegenwärtigen Handlung pvi_1386.020
einnimmt, denn Hauptperson ist, wer die vollste Kraft in die Durchführung pvi_1386.021
des Zweckes setzt, um den jene sich dreht. Dieß führt auf den wahren pvi_1386.022
Einheitspunct im Drama.
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§. 899.
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Was durch diese Zweckthätigkeit des Willens geschieht, ist im intensiven pvi_1386.025
Sinne des Wortes Handlung, eine Reihe von Thaten mit einer entscheidenden pvi_1386.026
That im Mittelpuncte. Durch sie bereiten sich die Personen ihr Schicksal. pvi_1386.027
Dieses geht aus dem Kampfe der Wirkungen und Gegenwirkungen als das pvi_1386.028
dem Ganzen dieser Bewegung vorher verborgen inwohnende Gesetz hervor, stellt pvi_1386.029
sich als das wahrhaft Herrschende, als das wahre Subject der Handlung heraus pvi_1386.030
und zieht also das Haupt-Jnteresse, welchem sich nun das für die Charaktere pvi_1386.031
unterordnet, auf sich. Keine Form der Kunst ist so ganz, wie das Drama, pvi_1386.032
zur Darstellung des Tragischen berufen.
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Aristoteles sagt (Poet. C. 6): die Hauptsache in der Tragödie sei der pvi_1386.034
Mythus, die Zusammenstellung der Begebenheiten, denn diese Dichtungsart pvi_1386.035
sei eine Nachahmung nicht von Personen, sondern von Handlungen, Lebensverhältnissen, pvi_1386.036
Glück und Unglück, ihr Ziel sei eine Handlung, nicht eine pvi_1386.037
Beschaffenheit; die Handlung sei nicht da zum Zwecke der Sittendarstellung, pvi_1386.038
sondern ihretwegen werde diese mitumfaßt, und eher sei eine Tragödie ohne
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