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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.

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aber an die Stelle der organisch idealisirenden Sage und des ächten Mythus pvi_1303.004
tritt die Ausbeutung des Olymps und seine Verbindung mit dem christlichen, pvi_1303.005
eine Caricatur des ächten epischen Weltbildes.

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§. 879.

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Die moderne Zeit hat an die Stelle des Epos, nachdem allerdings die1. pvi_1303.008
Umwälzung der Poesie mit neuen Versuchen desselben, und zwar der religiösen pvi_1303.009
Gattung, eröffnet worden war, den Roman gesetzt. Diese Form beruht auf2. pvi_1303.010
dem Geiste der Erfahrung (vergl. §. 365 ff. 466 ff.) und ihr Schauplatz ist pvi_1303.011
die prosaische Weltordnung, in welcher sie aber die Stellen aufsucht, die der pvi_1303.012
idealen Bewegung noch freieren Spielraum geben. Der Dichter ist selbstbewußter3. pvi_1303.013
Erfinder und fingirt frei den Hauptinhalt, was jedoch die epische Naivetät nicht pvi_1303.014
in jedem Sinn ausschließt.

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1. Es kann nicht unsre Aufgabe sein, ausführlich zu zeigen, wie durch pvi_1303.016
die Epopöen Milton's und Klopstock's nur unsere Behauptung bestätigt pvi_1303.017
wird, daß das eigentliche Epos der modernen Kunstpoesie zuwiderläuft und pvi_1303.018
daß einem religiösen überhaupt das Wesentliche der Dichtart abgeht; wir pvi_1303.019
fügen zu dem früher Gesagten nur noch einige Bemerkungen. Was der pvi_1303.020
Protestantismus von Mythen hat stehen lassen, ist zu arm und unsinnlich; pvi_1303.021
ausgesponnen, mit eigenen Erfindungen (namentlich aus dem Gebiete der pvi_1303.022
Angelologie) vermehrt, wird es zur todtgebornen Maschine. Der Begriff pvi_1303.023
der Maschinerie, durch die Franzosen aufgebracht und namentlich von pvi_1303.024
Voltaire in der Henriade frostig allegorisch zur Anwendung gebracht, zeigt pvi_1303.025
schon im Namen die Verkehrtheit an, poetische Motive, die einst lebendig pvi_1303.026
waren, nach ihrem Tode erneuern zu wollen, denn der Name gesteht, daß pvi_1303.027
sie mechanisch werden. Die innere Unwahrheit wird zur poetischen Leere pvi_1303.028
und Kälte. Der reife Geist der Selbstbestimmung in der modernen Zeit pvi_1303.029
setzt den Schein jenseitiger, transcendenter Verhandlungen über das Loos pvi_1303.030
des Menschen zu einer hohlen Jllusion herab. Wir haben bei Dante gesagt, pvi_1303.031
das religiöse Epos sei aufsteigend statt niedersteigend; Klopstock besingt zwar pvi_1303.032
den Menschgewordenen Gottessohn, aber nur um ihn und in ihm die Menschheit pvi_1303.033
durch seinen Leidensweg und Tod zum Himmel zurückzuführen. Transcendent pvi_1303.034
ist der Gang, transcendent die Hauptperson: ein Gottessohn kann pvi_1303.035
nicht Held eines Epos sein, weil er nicht fehlen, nicht für Fehl menschlich pvi_1303.036
leiden kann. Daß Klopstock überdieß eine ganz anschauungslose, wesentlich pvi_1303.037
auf die Empfindung gestellte, musikalisch und lyrisch gestimmte Natur war, pvi_1303.038
verfolgen wir hier nicht weiter; hätte er auch die Partieen seines Stoffs,

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des Dunkels. – Nur flüchtig erwähnen wir Camoens; der historische pvi_1303.002
Jnhalt der Luisiaden hat energisches Leben, Schwung des Nationalstolzes, pvi_1303.003
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eine Caricatur des ächten epischen Weltbildes.

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Die moderne Zeit hat an die Stelle des Epos, nachdem allerdings die1. pvi_1303.008
Umwälzung der Poesie mit neuen Versuchen desselben, und zwar der religiösen pvi_1303.009
Gattung, eröffnet worden war, den Roman gesetzt. Diese Form beruht auf2. pvi_1303.010
dem Geiste der Erfahrung (vergl. §. 365 ff. 466 ff.) und ihr Schauplatz ist pvi_1303.011
die prosaische Weltordnung, in welcher sie aber die Stellen aufsucht, die der pvi_1303.012
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Erfinder und fingirt frei den Hauptinhalt, was jedoch die epische Naivetät nicht pvi_1303.014
in jedem Sinn ausschließt.

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1. Es kann nicht unsre Aufgabe sein, ausführlich zu zeigen, wie durch pvi_1303.016
die Epopöen Milton's und Klopstock's nur unsere Behauptung bestätigt pvi_1303.017
wird, daß das eigentliche Epos der modernen Kunstpoesie zuwiderläuft und pvi_1303.018
daß einem religiösen überhaupt das Wesentliche der Dichtart abgeht; wir pvi_1303.019
fügen zu dem früher Gesagten nur noch einige Bemerkungen. Was der pvi_1303.020
Protestantismus von Mythen hat stehen lassen, ist zu arm und unsinnlich; pvi_1303.021
ausgesponnen, mit eigenen Erfindungen (namentlich aus dem Gebiete der pvi_1303.022
Angelologie) vermehrt, wird es zur todtgebornen Maschine. Der Begriff pvi_1303.023
der Maschinerie, durch die Franzosen aufgebracht und namentlich von pvi_1303.024
Voltaire in der Henriade frostig allegorisch zur Anwendung gebracht, zeigt pvi_1303.025
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waren, nach ihrem Tode erneuern zu wollen, denn der Name gesteht, daß pvi_1303.027
sie mechanisch werden. Die innere Unwahrheit wird zur poetischen Leere pvi_1303.028
und Kälte. Der reife Geist der Selbstbestimmung in der modernen Zeit pvi_1303.029
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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/165>, abgerufen am 25.11.2024.