hervorbringen. Daher ruft Kent beim Anblick Lear's, der die todte Cordelia auf seinen Armen geschleppt bringt: "Ist dieß das prophezeite Weltende?" und setzt Edgar hinzu: "Ist's ein Vorbild jener Schrecken?" und Albanien: "Des allgemeinen Untergangs?"
Und dieser Unerreichbare ist mit den argen, argen Flecken behaftet: Aberwitz und eckelhafte Zoten! Der letztere wird von den Anbetern nicht geleugnet, der erstere etwa einmal so zugegeben, wie man mit be¬ dientenhafter Art von Respekt ein Mängelchen an Erdengöttern zugibt. Was ich doch aber auch nicht ausstehen kann, ist die Pietätsmichelei. An großen Männern werden zu Götzendienern Alle und Jede, die keine Spur verwandten Geistes in sich fühlen. So entsteht der Nimbus. Die Menschen müssen Götter haben. Es ist wohl wahr, daß die Sprache arm ist, eine Bewunderung auszudrücken, wie wir sie für so große Genien fühlen, sie kann fast nicht umhin, zu vergöttlichenden Namen zu greifen. Aber wer ihres Geists auch nur ein Tröpfchen in sich spürt, wird dar¬ über nie und nimmer unkritisch werden, ja er wird gegen wirklich entstellende Flecken noch schärfer los¬ gehen, als bei gewöhnlichen Sterblichen, denn der Be¬ wunderte hat schwerere Verantwortung, als andere Menschenkinder. Gegen Mittelgut, wofern es bescheiden
hervorbringen. Daher ruft Kent beim Anblick Lear's, der die todte Cordelia auf ſeinen Armen geſchleppt bringt: „Iſt dieß das prophezeite Weltende?“ und ſetzt Edgar hinzu: „Iſt's ein Vorbild jener Schrecken?“ und Albanien: „Des allgemeinen Untergangs?“
Und dieſer Unerreichbare iſt mit den argen, argen Flecken behaftet: Aberwitz und eckelhafte Zoten! Der letztere wird von den Anbetern nicht geleugnet, der erſtere etwa einmal ſo zugegeben, wie man mit be¬ dientenhafter Art von Reſpekt ein Mängelchen an Erdengöttern zugibt. Was ich doch aber auch nicht ausſtehen kann, iſt die Pietätsmichelei. An großen Männern werden zu Götzendienern Alle und Jede, die keine Spur verwandten Geiſtes in ſich fühlen. So entſteht der Nimbus. Die Menſchen müſſen Götter haben. Es iſt wohl wahr, daß die Sprache arm iſt, eine Bewunderung auszudrücken, wie wir ſie für ſo große Genien fühlen, ſie kann faſt nicht umhin, zu vergöttlichenden Namen zu greifen. Aber wer ihres Geiſts auch nur ein Tröpfchen in ſich ſpürt, wird dar¬ über nie und nimmer unkritiſch werden, ja er wird gegen wirklich entſtellende Flecken noch ſchärfer los¬ gehen, als bei gewöhnlichen Sterblichen, denn der Be¬ wunderte hat ſchwerere Verantwortung, als andere Menſchenkinder. Gegen Mittelgut, wofern es beſcheiden
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hervorbringen. Daher ruft Kent beim Anblick Lear's,
der die todte Cordelia auf ſeinen Armen geſchleppt
bringt: „Iſt dieß das prophezeite Weltende?“ und ſetzt
Edgar hinzu: „Iſt's ein Vorbild jener Schrecken?“
und Albanien: „Des allgemeinen Untergangs?“
Und dieſer Unerreichbare iſt mit den argen, argen
Flecken behaftet: Aberwitz und eckelhafte Zoten! Der
letztere wird von den Anbetern nicht geleugnet, der
erſtere etwa einmal ſo zugegeben, wie man mit be¬
dientenhafter Art von Reſpekt ein Mängelchen an
Erdengöttern zugibt. Was ich doch aber auch nicht
ausſtehen kann, iſt die Pietätsmichelei. An großen
Männern werden zu Götzendienern Alle und Jede, die
keine Spur verwandten Geiſtes in ſich fühlen. So
entſteht der Nimbus. Die Menſchen müſſen Götter
haben. Es iſt wohl wahr, daß die Sprache arm iſt,
eine Bewunderung auszudrücken, wie wir ſie für ſo
große Genien fühlen, ſie kann faſt nicht umhin, zu
vergöttlichenden Namen zu greifen. Aber wer ihres
Geiſts auch nur ein Tröpfchen in ſich ſpürt, wird dar¬
über nie und nimmer unkritiſch werden, ja er wird
gegen wirklich entſtellende Flecken noch ſchärfer los¬
gehen, als bei gewöhnlichen Sterblichen, denn der Be¬
wunderte hat ſchwerere Verantwortung, als andere
Menſchenkinder. Gegen Mittelgut, wofern es beſcheiden
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/364>, abgerufen am 25.11.2024.
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