ist: mild, gegen Große streng! -- Ich hätte gute Lust, eine Shakespeare-Absurditätensammlung anzulegen -- zur größern Ehre des Dichters. Nichts schadet ja dem großen Geiste mehr, als wenn man den guten Leuten zumuthet, ihn mit Haut und Haar zu bewundern; ihnen soll man sagen: siehst du, das und das ist zu¬ gegeben als roh, als abgeschmackt u. s. w., damit plage dich nicht, damit du die Seele frei bekommst für das Große, das rein Schöne! -- Es ist nicht leicht ergründen, worin eigentlich das Absurde besteht. Wer vermöchte den Abgrund von Aberwitz in folgendem Prachtstück mit Begriffen zu erschöpfen! Romeo im Sonettenstyl über Rosalinde, da Benvoglio sagt, es gebe schönere Mädchen:
"Wenn meiner Augen frommer Glaube trügt, Dann, meine Thränen, werdet Feuergluten! Durchsicht'ge Ketzer, nicht ertränkt in Fluten, Verbrennt in Flammen, weil ihr schnöde lügt."
Genommen vom Hexen- und Ketzerprozeß: Wasser- und Feuerprobe. -- Das sagt nun Romeo zwar im euphui¬ stischen Modeton, man kann sich aber darauf verlassen, daß Shakespeare damit etwas Extrafeines in allem Ernst zu bieten meinte und daß die Gesellschaft seiner Zeit es höchlich bewunderte. Und in keinem deutschen Kom¬ mentar auch nur ein Wort gegen den vertrakten, hirn¬ verbrannten Schwulst! -- Shakespeare ist mit Einem Bein später aus diesem Geschling heraus, mit dem
iſt: mild, gegen Große ſtreng! — Ich hätte gute Luſt, eine Shakeſpeare-Abſurditätenſammlung anzulegen — zur größern Ehre des Dichters. Nichts ſchadet ja dem großen Geiſte mehr, als wenn man den guten Leuten zumuthet, ihn mit Haut und Haar zu bewundern; ihnen ſoll man ſagen: ſiehſt du, das und das iſt zu¬ gegeben als roh, als abgeſchmackt u. ſ. w., damit plage dich nicht, damit du die Seele frei bekommſt für das Große, das rein Schöne! — Es iſt nicht leicht ergründen, worin eigentlich das Abſurde beſteht. Wer vermöchte den Abgrund von Aberwitz in folgendem Prachtſtück mit Begriffen zu erſchöpfen! Romeo im Sonettenſtyl über Roſalinde, da Benvoglio ſagt, es gebe ſchönere Mädchen:
„Wenn meiner Augen frommer Glaube trügt, Dann, meine Thränen, werdet Feuergluten! Durchſicht'ge Ketzer, nicht ertränkt in Fluten, Verbrennt in Flammen, weil ihr ſchnöde lügt.“
Genommen vom Hexen- und Ketzerprozeß: Waſſer- und Feuerprobe. — Das ſagt nun Romeo zwar im euphui¬ ſtiſchen Modeton, man kann ſich aber darauf verlaſſen, daß Shakeſpeare damit etwas Extrafeines in allem Ernſt zu bieten meinte und daß die Geſellſchaft ſeiner Zeit es höchlich bewunderte. Und in keinem deutſchen Kom¬ mentar auch nur ein Wort gegen den vertrakten, hirn¬ verbrannten Schwulſt! — Shakeſpeare iſt mit Einem Bein ſpäter aus dieſem Geſchling heraus, mit dem
<TEI><text><body><div><p><pbfacs="#f0365"n="352"/>
iſt: mild, gegen Große ſtreng! — Ich hätte gute Luſt,<lb/>
eine Shakeſpeare-Abſurditätenſammlung anzulegen —<lb/>
zur größern Ehre des Dichters. Nichts ſchadet ja dem<lb/>
großen Geiſte mehr, als wenn man den guten Leuten<lb/>
zumuthet, ihn mit Haut und Haar zu bewundern;<lb/>
ihnen ſoll man ſagen: ſiehſt du, das und das iſt zu¬<lb/>
gegeben als roh, als abgeſchmackt u. ſ. w., damit plage<lb/>
dich nicht, damit du die Seele frei bekommſt für das<lb/>
Große, das rein Schöne! — Es iſt nicht leicht ergründen,<lb/>
worin eigentlich das Abſurde beſteht. Wer vermöchte<lb/>
den Abgrund von Aberwitz in folgendem Prachtſtück mit<lb/>
Begriffen zu erſchöpfen! Romeo im Sonettenſtyl über<lb/>
Roſalinde, da Benvoglio ſagt, es gebe ſchönere Mädchen:</p><lb/><lgtype="poem"><l>„Wenn meiner Augen frommer Glaube trügt,</l><lb/><l>Dann, meine Thränen, werdet Feuergluten!</l><lb/><l>Durchſicht'ge Ketzer, nicht ertränkt in Fluten,</l><lb/><l>Verbrennt in Flammen, weil ihr ſchnöde lügt.“</l><lb/></lg><p>Genommen vom Hexen- und Ketzerprozeß: Waſſer- und<lb/>
Feuerprobe. — Das ſagt nun Romeo zwar im euphui¬<lb/>ſtiſchen Modeton, man kann ſich aber darauf verlaſſen,<lb/>
daß Shakeſpeare damit etwas Extrafeines in allem Ernſt<lb/>
zu bieten meinte und daß die Geſellſchaft ſeiner Zeit<lb/>
es höchlich bewunderte. Und in keinem deutſchen Kom¬<lb/>
mentar auch nur ein Wort gegen den vertrakten, hirn¬<lb/>
verbrannten Schwulſt! — Shakeſpeare iſt mit Einem<lb/>
Bein ſpäter aus dieſem Geſchling heraus, mit dem<lb/></p></div></body></text></TEI>
[352/0365]
iſt: mild, gegen Große ſtreng! — Ich hätte gute Luſt,
eine Shakeſpeare-Abſurditätenſammlung anzulegen —
zur größern Ehre des Dichters. Nichts ſchadet ja dem
großen Geiſte mehr, als wenn man den guten Leuten
zumuthet, ihn mit Haut und Haar zu bewundern;
ihnen ſoll man ſagen: ſiehſt du, das und das iſt zu¬
gegeben als roh, als abgeſchmackt u. ſ. w., damit plage
dich nicht, damit du die Seele frei bekommſt für das
Große, das rein Schöne! — Es iſt nicht leicht ergründen,
worin eigentlich das Abſurde beſteht. Wer vermöchte
den Abgrund von Aberwitz in folgendem Prachtſtück mit
Begriffen zu erſchöpfen! Romeo im Sonettenſtyl über
Roſalinde, da Benvoglio ſagt, es gebe ſchönere Mädchen:
„Wenn meiner Augen frommer Glaube trügt,
Dann, meine Thränen, werdet Feuergluten!
Durchſicht'ge Ketzer, nicht ertränkt in Fluten,
Verbrennt in Flammen, weil ihr ſchnöde lügt.“
Genommen vom Hexen- und Ketzerprozeß: Waſſer- und
Feuerprobe. — Das ſagt nun Romeo zwar im euphui¬
ſtiſchen Modeton, man kann ſich aber darauf verlaſſen,
daß Shakeſpeare damit etwas Extrafeines in allem Ernſt
zu bieten meinte und daß die Geſellſchaft ſeiner Zeit
es höchlich bewunderte. Und in keinem deutſchen Kom¬
mentar auch nur ein Wort gegen den vertrakten, hirn¬
verbrannten Schwulſt! — Shakeſpeare iſt mit Einem
Bein ſpäter aus dieſem Geſchling heraus, mit dem
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/365>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.