Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Zeiten gibt dieß Bild nicht in so unerbittlicher Schärfe;
mit Shakespeare verglichen herrscht überall ideale Be¬
schönigung, die nicht vollkommen ideal ist, eben weil
sie noch beschönigt. Gegen diese Wildschweinwirthschaft
der Welt brennt nun in ihm wie glühend Eisen der
heilige Zorn und läßt er in seinen furchtbaren Tra¬
gödien die himmlische Gerechtigkeit mit blitzendem Flam¬
berg durchhauen, und nicht von außen, sondern von
innen. Er weiß sehr wohl, daß es so nicht wird in
der Mehrzahl der einzelnen Fälle, im besten nicht so
leuchtend; aber er vertraut und glaubt, obwohl er es so
wenig beweisen kann als irgend ein Sterblicher, er glaubt,
daß ein solches Gesetz geheimnißvoll, weil ein nicht
übersichtliches Unendliches beherrschend, unserem Auge
oft verschwindend, im Großen waltet, und als Dichter
faßt er diese zerstreuten Strahlen in den Focus eines
einzelnen Falls, der dadurch, wie durch jenes fürchter¬
lich wahre Bild der Welt, hochsymbolisch wird. Dabei
werden die tragisch Betheiligten und schuldig Gewordenen
nicht, nur die Gesellschaft wird gerettet, die Wahrheit
der über alles Einzelne übergreifenden Mächte: Ehre,
Liebe, Recht, Vernunft, Menschlichkeit; unter ihrem mit
so theurem Blute begossenen Baume können nun Un¬
zählige in Frieden leben. Diese Mächte bleiben, während
das Endliche verglühen muß. Shakespeare will durch die
Häufung von Leiden und Leichen in seinen letzten Akten
den Eindruck der Götterdämmerung, des jüngsten Tags

Zeiten gibt dieß Bild nicht in ſo unerbittlicher Schärfe;
mit Shakeſpeare verglichen herrſcht überall ideale Be¬
ſchönigung, die nicht vollkommen ideal iſt, eben weil
ſie noch beſchönigt. Gegen dieſe Wildſchweinwirthſchaft
der Welt brennt nun in ihm wie glühend Eiſen der
heilige Zorn und läßt er in ſeinen furchtbaren Tra¬
gödien die himmliſche Gerechtigkeit mit blitzendem Flam¬
berg durchhauen, und nicht von außen, ſondern von
innen. Er weiß ſehr wohl, daß es ſo nicht wird in
der Mehrzahl der einzelnen Fälle, im beſten nicht ſo
leuchtend; aber er vertraut und glaubt, obwohl er es ſo
wenig beweiſen kann als irgend ein Sterblicher, er glaubt,
daß ein ſolches Geſetz geheimnißvoll, weil ein nicht
überſichtliches Unendliches beherrſchend, unſerem Auge
oft verſchwindend, im Großen waltet, und als Dichter
faßt er dieſe zerſtreuten Strahlen in den Focus eines
einzelnen Falls, der dadurch, wie durch jenes fürchter¬
lich wahre Bild der Welt, hochſymboliſch wird. Dabei
werden die tragiſch Betheiligten und ſchuldig Gewordenen
nicht, nur die Geſellſchaft wird gerettet, die Wahrheit
der über alles Einzelne übergreifenden Mächte: Ehre,
Liebe, Recht, Vernunft, Menſchlichkeit; unter ihrem mit
ſo theurem Blute begoſſenen Baume können nun Un¬
zählige in Frieden leben. Dieſe Mächte bleiben, während
das Endliche verglühen muß. Shakeſpeare will durch die
Häufung von Leiden und Leichen in ſeinen letzten Akten
den Eindruck der Götterdämmerung, des jüngſten Tags

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0363" n="350"/>
Zeiten gibt dieß Bild nicht in &#x017F;o unerbittlicher Schärfe;<lb/>
mit Shake&#x017F;peare verglichen herr&#x017F;cht überall ideale Be¬<lb/>
&#x017F;chönigung, die nicht vollkommen ideal i&#x017F;t, eben weil<lb/>
&#x017F;ie noch be&#x017F;chönigt. Gegen die&#x017F;e Wild&#x017F;chweinwirth&#x017F;chaft<lb/>
der Welt brennt nun in ihm wie glühend Ei&#x017F;en der<lb/>
heilige Zorn und läßt er in &#x017F;einen furchtbaren Tra¬<lb/>
gödien die himmli&#x017F;che Gerechtigkeit mit blitzendem Flam¬<lb/>
berg durchhauen, und nicht von außen, &#x017F;ondern von<lb/>
innen. Er weiß &#x017F;ehr wohl, daß es &#x017F;o nicht wird in<lb/>
der Mehrzahl der einzelnen Fälle, im be&#x017F;ten nicht &#x017F;o<lb/>
leuchtend; aber er vertraut und glaubt, obwohl er es &#x017F;o<lb/>
wenig bewei&#x017F;en kann als irgend ein Sterblicher, er glaubt,<lb/>
daß ein &#x017F;olches Ge&#x017F;etz geheimnißvoll, weil ein nicht<lb/>
über&#x017F;ichtliches Unendliches beherr&#x017F;chend, un&#x017F;erem Auge<lb/>
oft ver&#x017F;chwindend, im Großen waltet, und als Dichter<lb/>
faßt er die&#x017F;e zer&#x017F;treuten Strahlen in den Focus eines<lb/>
einzelnen Falls, der dadurch, wie durch jenes fürchter¬<lb/>
lich wahre Bild der Welt, hoch&#x017F;ymboli&#x017F;ch wird. Dabei<lb/>
werden die tragi&#x017F;ch Betheiligten und &#x017F;chuldig Gewordenen<lb/><hi rendition="#g">nicht</hi>, nur die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft wird gerettet, die Wahrheit<lb/>
der über alles Einzelne übergreifenden Mächte: Ehre,<lb/>
Liebe, Recht, Vernunft, Men&#x017F;chlichkeit; unter ihrem mit<lb/>
&#x017F;o theurem Blute bego&#x017F;&#x017F;enen Baume können nun Un¬<lb/>
zählige in Frieden leben. Die&#x017F;e Mächte bleiben, während<lb/>
das Endliche verglühen muß. Shake&#x017F;peare will durch die<lb/>
Häufung von Leiden und Leichen in &#x017F;einen letzten Akten<lb/>
den Eindruck der Götterdämmerung, des jüng&#x017F;ten Tags<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[350/0363] Zeiten gibt dieß Bild nicht in ſo unerbittlicher Schärfe; mit Shakeſpeare verglichen herrſcht überall ideale Be¬ ſchönigung, die nicht vollkommen ideal iſt, eben weil ſie noch beſchönigt. Gegen dieſe Wildſchweinwirthſchaft der Welt brennt nun in ihm wie glühend Eiſen der heilige Zorn und läßt er in ſeinen furchtbaren Tra¬ gödien die himmliſche Gerechtigkeit mit blitzendem Flam¬ berg durchhauen, und nicht von außen, ſondern von innen. Er weiß ſehr wohl, daß es ſo nicht wird in der Mehrzahl der einzelnen Fälle, im beſten nicht ſo leuchtend; aber er vertraut und glaubt, obwohl er es ſo wenig beweiſen kann als irgend ein Sterblicher, er glaubt, daß ein ſolches Geſetz geheimnißvoll, weil ein nicht überſichtliches Unendliches beherrſchend, unſerem Auge oft verſchwindend, im Großen waltet, und als Dichter faßt er dieſe zerſtreuten Strahlen in den Focus eines einzelnen Falls, der dadurch, wie durch jenes fürchter¬ lich wahre Bild der Welt, hochſymboliſch wird. Dabei werden die tragiſch Betheiligten und ſchuldig Gewordenen nicht, nur die Geſellſchaft wird gerettet, die Wahrheit der über alles Einzelne übergreifenden Mächte: Ehre, Liebe, Recht, Vernunft, Menſchlichkeit; unter ihrem mit ſo theurem Blute begoſſenen Baume können nun Un¬ zählige in Frieden leben. Dieſe Mächte bleiben, während das Endliche verglühen muß. Shakeſpeare will durch die Häufung von Leiden und Leichen in ſeinen letzten Akten den Eindruck der Götterdämmerung, des jüngſten Tags

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/363
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/363>, abgerufen am 25.11.2024.