Zeiten gibt dieß Bild nicht in so unerbittlicher Schärfe; mit Shakespeare verglichen herrscht überall ideale Be¬ schönigung, die nicht vollkommen ideal ist, eben weil sie noch beschönigt. Gegen diese Wildschweinwirthschaft der Welt brennt nun in ihm wie glühend Eisen der heilige Zorn und läßt er in seinen furchtbaren Tra¬ gödien die himmlische Gerechtigkeit mit blitzendem Flam¬ berg durchhauen, und nicht von außen, sondern von innen. Er weiß sehr wohl, daß es so nicht wird in der Mehrzahl der einzelnen Fälle, im besten nicht so leuchtend; aber er vertraut und glaubt, obwohl er es so wenig beweisen kann als irgend ein Sterblicher, er glaubt, daß ein solches Gesetz geheimnißvoll, weil ein nicht übersichtliches Unendliches beherrschend, unserem Auge oft verschwindend, im Großen waltet, und als Dichter faßt er diese zerstreuten Strahlen in den Focus eines einzelnen Falls, der dadurch, wie durch jenes fürchter¬ lich wahre Bild der Welt, hochsymbolisch wird. Dabei werden die tragisch Betheiligten und schuldig Gewordenen nicht, nur die Gesellschaft wird gerettet, die Wahrheit der über alles Einzelne übergreifenden Mächte: Ehre, Liebe, Recht, Vernunft, Menschlichkeit; unter ihrem mit so theurem Blute begossenen Baume können nun Un¬ zählige in Frieden leben. Diese Mächte bleiben, während das Endliche verglühen muß. Shakespeare will durch die Häufung von Leiden und Leichen in seinen letzten Akten den Eindruck der Götterdämmerung, des jüngsten Tags
Zeiten gibt dieß Bild nicht in ſo unerbittlicher Schärfe; mit Shakeſpeare verglichen herrſcht überall ideale Be¬ ſchönigung, die nicht vollkommen ideal iſt, eben weil ſie noch beſchönigt. Gegen dieſe Wildſchweinwirthſchaft der Welt brennt nun in ihm wie glühend Eiſen der heilige Zorn und läßt er in ſeinen furchtbaren Tra¬ gödien die himmliſche Gerechtigkeit mit blitzendem Flam¬ berg durchhauen, und nicht von außen, ſondern von innen. Er weiß ſehr wohl, daß es ſo nicht wird in der Mehrzahl der einzelnen Fälle, im beſten nicht ſo leuchtend; aber er vertraut und glaubt, obwohl er es ſo wenig beweiſen kann als irgend ein Sterblicher, er glaubt, daß ein ſolches Geſetz geheimnißvoll, weil ein nicht überſichtliches Unendliches beherrſchend, unſerem Auge oft verſchwindend, im Großen waltet, und als Dichter faßt er dieſe zerſtreuten Strahlen in den Focus eines einzelnen Falls, der dadurch, wie durch jenes fürchter¬ lich wahre Bild der Welt, hochſymboliſch wird. Dabei werden die tragiſch Betheiligten und ſchuldig Gewordenen nicht, nur die Geſellſchaft wird gerettet, die Wahrheit der über alles Einzelne übergreifenden Mächte: Ehre, Liebe, Recht, Vernunft, Menſchlichkeit; unter ihrem mit ſo theurem Blute begoſſenen Baume können nun Un¬ zählige in Frieden leben. Dieſe Mächte bleiben, während das Endliche verglühen muß. Shakeſpeare will durch die Häufung von Leiden und Leichen in ſeinen letzten Akten den Eindruck der Götterdämmerung, des jüngſten Tags
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Zeiten gibt dieß Bild nicht in ſo unerbittlicher Schärfe;
mit Shakeſpeare verglichen herrſcht überall ideale Be¬
ſchönigung, die nicht vollkommen ideal iſt, eben weil
ſie noch beſchönigt. Gegen dieſe Wildſchweinwirthſchaft
der Welt brennt nun in ihm wie glühend Eiſen der
heilige Zorn und läßt er in ſeinen furchtbaren Tra¬
gödien die himmliſche Gerechtigkeit mit blitzendem Flam¬
berg durchhauen, und nicht von außen, ſondern von
innen. Er weiß ſehr wohl, daß es ſo nicht wird in
der Mehrzahl der einzelnen Fälle, im beſten nicht ſo
leuchtend; aber er vertraut und glaubt, obwohl er es ſo
wenig beweiſen kann als irgend ein Sterblicher, er glaubt,
daß ein ſolches Geſetz geheimnißvoll, weil ein nicht
überſichtliches Unendliches beherrſchend, unſerem Auge
oft verſchwindend, im Großen waltet, und als Dichter
faßt er dieſe zerſtreuten Strahlen in den Focus eines
einzelnen Falls, der dadurch, wie durch jenes fürchter¬
lich wahre Bild der Welt, hochſymboliſch wird. Dabei
werden die tragiſch Betheiligten und ſchuldig Gewordenen
nicht, nur die Geſellſchaft wird gerettet, die Wahrheit
der über alles Einzelne übergreifenden Mächte: Ehre,
Liebe, Recht, Vernunft, Menſchlichkeit; unter ihrem mit
ſo theurem Blute begoſſenen Baume können nun Un¬
zählige in Frieden leben. Dieſe Mächte bleiben, während
das Endliche verglühen muß. Shakeſpeare will durch die
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/363>, abgerufen am 25.11.2024.
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