Vormittag, fünf sein? Ein Jammerstand des Be¬ wußtseins, ein tiefinneres Unglück und Elend.
Frau Hedwig, mein guter Privatsekretär, meint, die Briefe, die ich selbst abfassen muß, könne ich ihr ja diktiren. Kann ihr aber nicht diktiren, fällt mir nichts ein, wenn Jemand mit angesetzter Feder wartet. Neulich soll meinem Pferde zur Ader gelassen werden, der Bediente bestellt einen festen, auch darin erfahrenen Hufschmied. Ich sehe zu. Der nörgelt an dem Thier herum, will den Schnepper hier, dort anlegen, kommt nicht zum Schluß, nimmt den Johann in eine Ecke, flüstert mit ihm, und dieser tritt zu mir her und richtet mir aus: ich möge doch verzeihen, der Hufschmied könne es nicht verrichten, wenn ich zusehe. Und es ist ein starker, breiter, nichts weniger als nervöser Mann! So das geschieht am grünen Holze -- -- --.
Ich suche und ich fliehe die Menschen, bin gesprächig, und kann mich so schrecklich erzürnen über ein dummes Gespräch. Jedes Gespräch, das nicht durch Austausch nach Erkenntniß strebt, ist dumm. Halt! Da muß aber: Erkenntniß in fast unerlaubt weitem Sinn ver¬ standen werden. Ich bin ein nur zu großer Freund von rein närrischen Gesprächen. Sie sind höchst er¬
Vischer, Auch Einer. II. 20
Vormittag, fünf ſein? Ein Jammerſtand des Be¬ wußtſeins, ein tiefinneres Unglück und Elend.
Frau Hedwig, mein guter Privatſekretär, meint, die Briefe, die ich ſelbſt abfaſſen muß, könne ich ihr ja diktiren. Kann ihr aber nicht diktiren, fällt mir nichts ein, wenn Jemand mit angeſetzter Feder wartet. Neulich ſoll meinem Pferde zur Ader gelaſſen werden, der Bediente beſtellt einen feſten, auch darin erfahrenen Hufſchmied. Ich ſehe zu. Der nörgelt an dem Thier herum, will den Schnepper hier, dort anlegen, kommt nicht zum Schluß, nimmt den Johann in eine Ecke, flüſtert mit ihm, und dieſer tritt zu mir her und richtet mir aus: ich möge doch verzeihen, der Hufſchmied könne es nicht verrichten, wenn ich zuſehe. Und es iſt ein ſtarker, breiter, nichts weniger als nervöſer Mann! So das geſchieht am grünen Holze — — —.
Ich ſuche und ich fliehe die Menſchen, bin geſprächig, und kann mich ſo ſchrecklich erzürnen über ein dummes Geſpräch. Jedes Geſpräch, das nicht durch Austauſch nach Erkenntniß ſtrebt, iſt dumm. Halt! Da muß aber: Erkenntniß in faſt unerlaubt weitem Sinn ver¬ ſtanden werden. Ich bin ein nur zu großer Freund von rein närriſchen Geſprächen. Sie ſind höchſt er¬
Viſcher‚ Auch Einer. II. 20
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Vormittag, fünf ſein? Ein Jammerſtand des Be¬
wußtſeins, ein tiefinneres Unglück und Elend.
Frau Hedwig, mein guter Privatſekretär, meint,
die Briefe, die ich ſelbſt abfaſſen muß, könne ich ihr
ja diktiren. Kann ihr aber nicht diktiren, fällt mir
nichts ein, wenn Jemand mit angeſetzter Feder wartet.
Neulich ſoll meinem Pferde zur Ader gelaſſen werden,
der Bediente beſtellt einen feſten, auch darin erfahrenen
Hufſchmied. Ich ſehe zu. Der nörgelt an dem Thier
herum, will den Schnepper hier, dort anlegen, kommt
nicht zum Schluß, nimmt den Johann in eine Ecke,
flüſtert mit ihm, und dieſer tritt zu mir her und richtet
mir aus: ich möge doch verzeihen, der Hufſchmied
könne es nicht verrichten, wenn ich zuſehe. Und es
iſt ein ſtarker, breiter, nichts weniger als nervöſer
Mann! So das geſchieht am grünen Holze — — —.
Ich ſuche und ich fliehe die Menſchen, bin geſprächig,
und kann mich ſo ſchrecklich erzürnen über ein dummes
Geſpräch. Jedes Geſpräch, das nicht durch Austauſch
nach Erkenntniß ſtrebt, iſt dumm. Halt! Da muß
aber: Erkenntniß in faſt unerlaubt weitem Sinn ver¬
ſtanden werden. Ich bin ein nur zu großer Freund
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/318>, abgerufen am 24.11.2024.
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