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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879.

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nur so ohne Weiteres für den Ausdruck der Meinung
Aller nahm, wiewohl übrigens streng parlamentarische
Formen der Abstimmung allerdings noch nicht im
Gebrauche waren; kurz, der ziemlich parteiische Ob¬
mann betrat nun die Kanzel und sprach:

"Hochgeachtete Gäste, insbesondere hochgeachteter Herr
Bardensänger! Ich weiß, daß ich im Sinne der ganzen
Gemeinde spreche, wenn ich erkläre, daß sie in Eurem
Festgedichte ein Erzeugniß sowohl der religiösen Ge¬
fühlsbegeisterung, als auch der tiefen poetischen Stim¬
mung begrüßt, im Inhalt höchst bedeutend, in der
Form fließend, korrekt, meisterhaft. Nur ganz un¬
maßgeblich, weit entfernt von aller Absicht, diese Blüte
der Dichterphantasie irgend verkleinern zu wollen, möchte
ich mir einige bescheidene kritische Bemerkungen erlauben.
Dürfte es nicht vielleicht denkbar sein, daß ein Fest¬
gesang als Hymnus mehr ausdrückliche verherrlichende
Anrede an die Gottheit, zugleich auch und eben im
Zusammenhang damit mehr eigentlichen religiösen
Glaubensgehalt in sich schlöße? Nicht als Dichter darf
ich mich für befugt erachten, diese leisen Ausstellungen
vorzubringen, ich rühme mich nicht, mit der Gabe der
Poesie gesegnet zu sein; jedennoch sind in diesen Tagen
weihevoller vorfestlicher Stimmung Augenblicke für mich
gekommen, wo es mir war, als fühle ich ein Wehen
von oben, vom Gestirn Selinur, und wieder ein Wehen
von den Wassern her, und vernehme eine Stimme, die

Vischer, Auch Einer. I. 17

nur ſo ohne Weiteres für den Ausdruck der Meinung
Aller nahm, wiewohl übrigens ſtreng parlamentariſche
Formen der Abſtimmung allerdings noch nicht im
Gebrauche waren; kurz, der ziemlich parteiiſche Ob¬
mann betrat nun die Kanzel und ſprach:

„Hochgeachtete Gäſte, insbeſondere hochgeachteter Herr
Bardenſänger! Ich weiß, daß ich im Sinne der ganzen
Gemeinde ſpreche, wenn ich erkläre, daß ſie in Eurem
Feſtgedichte ein Erzeugniß ſowohl der religiöſen Ge¬
fühlsbegeiſterung, als auch der tiefen poetiſchen Stim¬
mung begrüßt, im Inhalt höchſt bedeutend, in der
Form fließend, korrekt, meiſterhaft. Nur ganz un¬
maßgeblich, weit entfernt von aller Abſicht, dieſe Blüte
der Dichterphantaſie irgend verkleinern zu wollen, möchte
ich mir einige beſcheidene kritiſche Bemerkungen erlauben.
Dürfte es nicht vielleicht denkbar ſein, daß ein Feſt¬
geſang als Hymnus mehr ausdrückliche verherrlichende
Anrede an die Gottheit, zugleich auch und eben im
Zuſammenhang damit mehr eigentlichen religiöſen
Glaubensgehalt in ſich ſchlöße? Nicht als Dichter darf
ich mich für befugt erachten, dieſe leiſen Ausſtellungen
vorzubringen, ich rühme mich nicht, mit der Gabe der
Poeſie geſegnet zu ſein; jedennoch ſind in dieſen Tagen
weihevoller vorfeſtlicher Stimmung Augenblicke für mich
gekommen, wo es mir war, als fühle ich ein Wehen
von oben, vom Geſtirn Selinur, und wieder ein Wehen
von den Waſſern her, und vernehme eine Stimme, die

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[257/0270] nur ſo ohne Weiteres für den Ausdruck der Meinung Aller nahm, wiewohl übrigens ſtreng parlamentariſche Formen der Abſtimmung allerdings noch nicht im Gebrauche waren; kurz, der ziemlich parteiiſche Ob¬ mann betrat nun die Kanzel und ſprach: „Hochgeachtete Gäſte, insbeſondere hochgeachteter Herr Bardenſänger! Ich weiß, daß ich im Sinne der ganzen Gemeinde ſpreche, wenn ich erkläre, daß ſie in Eurem Feſtgedichte ein Erzeugniß ſowohl der religiöſen Ge¬ fühlsbegeiſterung, als auch der tiefen poetiſchen Stim¬ mung begrüßt, im Inhalt höchſt bedeutend, in der Form fließend, korrekt, meiſterhaft. Nur ganz un¬ maßgeblich, weit entfernt von aller Abſicht, dieſe Blüte der Dichterphantaſie irgend verkleinern zu wollen, möchte ich mir einige beſcheidene kritiſche Bemerkungen erlauben. Dürfte es nicht vielleicht denkbar ſein, daß ein Feſt¬ geſang als Hymnus mehr ausdrückliche verherrlichende Anrede an die Gottheit, zugleich auch und eben im Zuſammenhang damit mehr eigentlichen religiöſen Glaubensgehalt in ſich ſchlöße? Nicht als Dichter darf ich mich für befugt erachten, dieſe leiſen Ausſtellungen vorzubringen, ich rühme mich nicht, mit der Gabe der Poeſie geſegnet zu ſein; jedennoch ſind in dieſen Tagen weihevoller vorfeſtlicher Stimmung Augenblicke für mich gekommen, wo es mir war, als fühle ich ein Wehen von oben, vom Geſtirn Selinur, und wieder ein Wehen von den Waſſern her, und vernehme eine Stimme, die Viſcher, Auch Einer. I. 17

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/270>, abgerufen am 11.06.2024.