daß mythische Motive im Fortgange sich in naturgemäße Wahrheit aufheben; der Mensch ist also auf sich, auf die eigenen Füße gestellt, seine Loose fallen in seinem eignen Innern, das Schicksal erzeugt sich aus der Freiheit. "Das Schicksal oder, welches einerlei ist, die entschiedene Natur des Menschen, die ihn blind da oder dorthin führt", sagt Göthe (Briefw. mit Schiller Th. 3, S. 84). Es fehlt in dieser Bezeichnung der immanenten modernen Schicksals-Idee eine Reihe vermittelnder Begriffe, die nach unserer Lehre vom Tragischen keiner weiteren Auseinandersetzung bedürfen, sie ist aber dennoch schlagend und treffend. Der Charakter nun erkauft sich in dieser Auffassung das Recht, mit dem weiteren Umfang seiner Eigenheiten und Härten, mit seiner unregelmäßigeren, zerfurchteren Gestalt in die Poesie einzutreten, durch das Uebergewicht des Ausdrucks, und dieser Ausdruck ist im Drama der Ausdruck der Freiheit, des entscheidenden Wollens. Nun erst legt sich das ganze Gewicht so auf diesen Punct, daß der Wille in jener Form der schärfsten Intensität auftritt, die wir in §. 898 als die wesentlich drama- tische aufgestellt haben: das moderne Drama fordert revolutionäre, im tiefsten Sinne des Worts radicale Charaktere. Mit der durchschneidenden Entschie- denheit entwickelt sich jetzt auch die Fülle und Tiefe der inneren Welt, der charakteristische Styl ist zugleich der subjective, psychologische. Dieß hat aber ebenso ganz objective Bedeutung: das Streben des Helden soll ja allgemein menschlichen, ewig wahren Inhalt haben, soll Pathos im gewichtigen Sinne des Wortes sein und gerade die objective Gewalt und Wahrheit des Pathos will der moderne Geist daran erkennen, daß es den Menschen mit aller Vielseitigkeit, Besonderheit und Eigenheit seiner Kräfte in Besitz nimmt. Der complicirtere, oder, wie man sonst sagte, gemischtere Charakter ist dem- nach objectiv wie subjectiv gefordert, ein Charakter, der sich in gebrochener Linie, in scheinbaren Widersprüchen bewegt. Dieß ist zugleich der Grund der reicheren Fabel, der mannigfaltig sich verästenden Handlung, der Poly- mythie im neueren Drama. Es verhält sich wie mit der Ausbildung der Harmonie in der neueren Musik: die größere Zahl der Personen entspricht genau der reichen Instrumentirung des modernen Musikwerks; wir wollen den einen Grundton in mannigfaltigerer Resonanz vernehmen, dieselbe Bewe- gung des Innern vielfacher gewendet, wie sie sich in verschiedenen Gemüthern, Fällen, Folgen spiegelt, oder, um die Beziehung der Style zum Unterschiede der Plastik und Malerei nicht zu vergessen, wir wollen den tieferen Hinter- grund, die reichere Composition der letzteren statt der unbenützten Fläche, welche die sparsameren Gruppen des Relief umgibt. Ist die Handlung mannigfaltiger, so ist sie nothwendig auch verwickelter und ihr verschlun- gener Knoten entspricht der verschlungneren Form des Charakters. -- Diese innern Bedingungen sind denn auch der tiefere Grund der Entfernung des Chors. Eine Handlung, die vom Prinzip der Immanenz so streng
Vischer's Aesthetik. 4. Band. 91
daß mythiſche Motive im Fortgange ſich in naturgemäße Wahrheit aufheben; der Menſch iſt alſo auf ſich, auf die eigenen Füße geſtellt, ſeine Looſe fallen in ſeinem eignen Innern, das Schickſal erzeugt ſich aus der Freiheit. „Das Schickſal oder, welches einerlei iſt, die entſchiedene Natur des Menſchen, die ihn blind da oder dorthin führt“, ſagt Göthe (Briefw. mit Schiller Th. 3, S. 84). Es fehlt in dieſer Bezeichnung der immanenten modernen Schickſals-Idee eine Reihe vermittelnder Begriffe, die nach unſerer Lehre vom Tragiſchen keiner weiteren Auseinanderſetzung bedürfen, ſie iſt aber dennoch ſchlagend und treffend. Der Charakter nun erkauft ſich in dieſer Auffaſſung das Recht, mit dem weiteren Umfang ſeiner Eigenheiten und Härten, mit ſeiner unregelmäßigeren, zerfurchteren Geſtalt in die Poeſie einzutreten, durch das Uebergewicht des Ausdrucks, und dieſer Ausdruck iſt im Drama der Ausdruck der Freiheit, des entſcheidenden Wollens. Nun erſt legt ſich das ganze Gewicht ſo auf dieſen Punct, daß der Wille in jener Form der ſchärfſten Intenſität auftritt, die wir in §. 898 als die weſentlich drama- tiſche aufgeſtellt haben: das moderne Drama fordert revolutionäre, im tiefſten Sinne des Worts radicale Charaktere. Mit der durchſchneidenden Entſchie- denheit entwickelt ſich jetzt auch die Fülle und Tiefe der inneren Welt, der charakteriſtiſche Styl iſt zugleich der ſubjective, pſychologiſche. Dieß hat aber ebenſo ganz objective Bedeutung: das Streben des Helden ſoll ja allgemein menſchlichen, ewig wahren Inhalt haben, ſoll Pathos im gewichtigen Sinne des Wortes ſein und gerade die objective Gewalt und Wahrheit des Pathos will der moderne Geiſt daran erkennen, daß es den Menſchen mit aller Vielſeitigkeit, Beſonderheit und Eigenheit ſeiner Kräfte in Beſitz nimmt. Der complicirtere, oder, wie man ſonſt ſagte, gemiſchtere Charakter iſt dem- nach objectiv wie ſubjectiv gefordert, ein Charakter, der ſich in gebrochener Linie, in ſcheinbaren Widerſprüchen bewegt. Dieß iſt zugleich der Grund der reicheren Fabel, der mannigfaltig ſich veräſtenden Handlung, der Poly- mythie im neueren Drama. Es verhält ſich wie mit der Ausbildung der Harmonie in der neueren Muſik: die größere Zahl der Perſonen entſpricht genau der reichen Inſtrumentirung des modernen Muſikwerks; wir wollen den einen Grundton in mannigfaltigerer Reſonanz vernehmen, dieſelbe Bewe- gung des Innern vielfacher gewendet, wie ſie ſich in verſchiedenen Gemüthern, Fällen, Folgen ſpiegelt, oder, um die Beziehung der Style zum Unterſchiede der Plaſtik und Malerei nicht zu vergeſſen, wir wollen den tieferen Hinter- grund, die reichere Compoſition der letzteren ſtatt der unbenützten Fläche, welche die ſparſameren Gruppen des Relief umgibt. Iſt die Handlung mannigfaltiger, ſo iſt ſie nothwendig auch verwickelter und ihr verſchlun- gener Knoten entſpricht der verſchlungneren Form des Charakters. — Dieſe innern Bedingungen ſind denn auch der tiefere Grund der Entfernung des Chors. Eine Handlung, die vom Prinzip der Immanenz ſo ſtreng
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daß mythiſche Motive im Fortgange ſich in naturgemäße Wahrheit aufheben;
der Menſch iſt alſo auf ſich, auf die eigenen Füße geſtellt, ſeine Looſe fallen
in ſeinem eignen Innern, das Schickſal erzeugt ſich aus der Freiheit. „Das
Schickſal oder, welches einerlei iſt, die entſchiedene Natur des Menſchen,
die ihn blind da oder dorthin führt“, ſagt Göthe (Briefw. mit Schiller
Th. 3, S. 84). Es fehlt in dieſer Bezeichnung der immanenten modernen
Schickſals-Idee eine Reihe vermittelnder Begriffe, die nach unſerer Lehre
vom Tragiſchen keiner weiteren Auseinanderſetzung bedürfen, ſie iſt aber
dennoch ſchlagend und treffend. Der Charakter nun erkauft ſich in dieſer
Auffaſſung das Recht, mit dem weiteren Umfang ſeiner Eigenheiten und
Härten, mit ſeiner unregelmäßigeren, zerfurchteren Geſtalt in die Poeſie
einzutreten, durch das Uebergewicht des Ausdrucks, und dieſer Ausdruck iſt im
Drama der Ausdruck der Freiheit, des entſcheidenden Wollens. Nun erſt legt
ſich das ganze Gewicht ſo auf dieſen Punct, daß der Wille in jener Form
der ſchärfſten Intenſität auftritt, die wir in §. 898 als die weſentlich drama-
tiſche aufgeſtellt haben: das moderne Drama fordert revolutionäre, im tiefſten
Sinne des Worts radicale Charaktere. Mit der durchſchneidenden Entſchie-
denheit entwickelt ſich jetzt auch die Fülle und Tiefe der inneren Welt, der
charakteriſtiſche Styl iſt zugleich der ſubjective, pſychologiſche. Dieß hat aber
ebenſo ganz objective Bedeutung: das Streben des Helden ſoll ja allgemein
menſchlichen, ewig wahren Inhalt haben, ſoll Pathos im gewichtigen Sinne
des Wortes ſein und gerade die objective Gewalt und Wahrheit des Pathos
will der moderne Geiſt daran erkennen, daß es den Menſchen mit aller
Vielſeitigkeit, Beſonderheit und Eigenheit ſeiner Kräfte in Beſitz nimmt.
Der complicirtere, oder, wie man ſonſt ſagte, gemiſchtere Charakter iſt dem-
nach objectiv wie ſubjectiv gefordert, ein Charakter, der ſich in gebrochener
Linie, in ſcheinbaren Widerſprüchen bewegt. Dieß iſt zugleich der Grund
der reicheren Fabel, der mannigfaltig ſich veräſtenden Handlung, der Poly-
mythie im neueren Drama. Es verhält ſich wie mit der Ausbildung der
Harmonie in der neueren Muſik: die größere Zahl der Perſonen entſpricht
genau der reichen Inſtrumentirung des modernen Muſikwerks; wir wollen
den einen Grundton in mannigfaltigerer Reſonanz vernehmen, dieſelbe Bewe-
gung des Innern vielfacher gewendet, wie ſie ſich in verſchiedenen Gemüthern,
Fällen, Folgen ſpiegelt, oder, um die Beziehung der Style zum Unterſchiede
der Plaſtik und Malerei nicht zu vergeſſen, wir wollen den tieferen Hinter-
grund, die reichere Compoſition der letzteren ſtatt der unbenützten Fläche,
welche die ſparſameren Gruppen des Relief umgibt. Iſt die Handlung
mannigfaltiger, ſo iſt ſie nothwendig auch verwickelter und ihr verſchlun-
gener Knoten entſpricht der verſchlungneren Form des Charakters. — Dieſe
innern Bedingungen ſind denn auch der tiefere Grund der Entfernung
des Chors. Eine Handlung, die vom Prinzip der Immanenz ſo ſtreng
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1415. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/279>, abgerufen am 22.11.2024.
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