die alte Komödie doch ein blos beziehungsweiser: die neuere Komödie der Alten generalisirt mehr, als sie individualisirt, ihre Sklaven, Schmarotzer, geprellten Väter, leichtsinnigen Söhne, Dirnen, soldatischen Aufschneider, Trunkenbolde u. s. w. sind mehr Masken, als wirkliche Einzelwesen, und es wird dieß folgenreich für den Uebertritt des classischen Styls in den wesentlich charakteristischen modernen durch den Einfluß des Abbilds der neueren Komödie der Griechen, der römischen, auf die romanische Literatur. Obwohl nach dieser Seite nur ein relativer Gegensatz, konnte eine solche Form doch im Alterthum nicht gleichzeitig mit der rein classischen auftreten, dort ist der Unterschied vielmehr ein successiver und es verhält sich damit wie mit dem Uebergange der antiken Plastik und Malerei in das Realistische, Sittenbildliche; die Erscheinung ist aber als geschichtliches Vorbild eines bleibenden, der weitern, logischen Eintheilung angehörigen Gegensatzes durchaus wichtig und wesentlich. Ein ähnlicher Gegensatz tritt nun, eben- falls geschichtlich, auch in der antiken Tragödie ein, denn Euripides faßt die Menschen schon empirisch, subjectiv, psychologisch, vielseitig, reicher colo- rirt, skeptisch; aber diese Behandlung steht im Widerspruche mit dem großen heroisch mythischen Stoffe, der doch beibehalten ist, und so gelangt auf diesem Boden die Stylwendung nicht zu derselben Bestimmtheit, wie auf dem komischen. In schwacher Andeutung ist allerdings ein Styl-Gegensatz auch als ein gleichzeitiger wahrzunehmen, und zwar in der Eintheilung der Arten der Tragödie bei Aristoteles (Poetik C. 18.); denn die ethische Art, die er unter den andern aufzählt, ist sittenbildlich, charakteristisch und der Peleus, den er neben den Phthiotiden als Beispiel anführt, war nicht nur von Euripides, sondern auch von Sophokles behandelt. Allein diese Form war wenig ausgebildet und das psychologische, rein menschliche Ge- mälde, auf das sie schließen läßt, konnte entfernt nicht bis zu einer Ausbildung des Charakteristischen gehen, die einen so entschiedenen Ge- gensatz der Stylrichtung innerhalb des Antiken darstellte, wie die neuere Komödie.
§. 907.
Der charakteristische Styl des modernen Drama's stellt sich, ohne auf die sagenhaften Stoffe zu verzichten, auf den Boden der naturgemäßen Wirk- lichkeit des politischen, bürgerlichen, oder Privatlebens und entwickelt aus der tieferen, auf prinzipielle Umgestaltung des Bestehenden schneidender gerichteten Subjectivität vielseitiger, eine scheinbar widerspruchsvolle Einheit darstellender und in härtere Einzelzüge auslaufender Charaktere in organischem Anwachsen eine reichere, verzweigtere, größere Personenzahl fordernde Handlung. Das Schicksal ergibt sich als immanentes Gesetz aus den Wirkungen und Gegen- wirkungen der Freiheit. Der Chor, die Verbindung des Drama mit Lyrik,
die alte Komödie doch ein blos beziehungsweiſer: die neuere Komödie der Alten generaliſirt mehr, als ſie individualiſirt, ihre Sklaven, Schmarotzer, geprellten Väter, leichtſinnigen Söhne, Dirnen, ſoldatiſchen Aufſchneider, Trunkenbolde u. ſ. w. ſind mehr Masken, als wirkliche Einzelweſen, und es wird dieß folgenreich für den Uebertritt des claſſiſchen Styls in den weſentlich charakteriſtiſchen modernen durch den Einfluß des Abbilds der neueren Komödie der Griechen, der römiſchen, auf die romaniſche Literatur. Obwohl nach dieſer Seite nur ein relativer Gegenſatz, konnte eine ſolche Form doch im Alterthum nicht gleichzeitig mit der rein claſſiſchen auftreten, dort iſt der Unterſchied vielmehr ein ſucceſſiver und es verhält ſich damit wie mit dem Uebergange der antiken Plaſtik und Malerei in das Realiſtiſche, Sittenbildliche; die Erſcheinung iſt aber als geſchichtliches Vorbild eines bleibenden, der weitern, logiſchen Eintheilung angehörigen Gegenſatzes durchaus wichtig und weſentlich. Ein ähnlicher Gegenſatz tritt nun, eben- falls geſchichtlich, auch in der antiken Tragödie ein, denn Euripides faßt die Menſchen ſchon empiriſch, ſubjectiv, pſychologiſch, vielſeitig, reicher colo- rirt, ſkeptiſch; aber dieſe Behandlung ſteht im Widerſpruche mit dem großen heroiſch mythiſchen Stoffe, der doch beibehalten iſt, und ſo gelangt auf dieſem Boden die Stylwendung nicht zu derſelben Beſtimmtheit, wie auf dem komiſchen. In ſchwacher Andeutung iſt allerdings ein Styl-Gegenſatz auch als ein gleichzeitiger wahrzunehmen, und zwar in der Eintheilung der Arten der Tragödie bei Ariſtoteles (Poetik C. 18.); denn die ethiſche Art, die er unter den andern aufzählt, iſt ſittenbildlich, charakteriſtiſch und der Peleus, den er neben den Phthiotiden als Beiſpiel anführt, war nicht nur von Euripides, ſondern auch von Sophokles behandelt. Allein dieſe Form war wenig ausgebildet und das pſychologiſche, rein menſchliche Ge- mälde, auf das ſie ſchließen läßt, konnte entfernt nicht bis zu einer Ausbildung des Charakteriſtiſchen gehen, die einen ſo entſchiedenen Ge- genſatz der Stylrichtung innerhalb des Antiken darſtellte, wie die neuere Komödie.
§. 907.
Der charakteriſtiſche Styl des modernen Drama’s ſtellt ſich, ohne auf die ſagenhaften Stoffe zu verzichten, auf den Boden der naturgemäßen Wirk- lichkeit des politiſchen, bürgerlichen, oder Privatlebens und entwickelt aus der tieferen, auf prinzipielle Umgeſtaltung des Beſtehenden ſchneidender gerichteten Subjectivität vielſeitiger, eine ſcheinbar widerſpruchsvolle Einheit darſtellender und in härtere Einzelzüge auslaufender Charaktere in organiſchem Anwachſen eine reichere, verzweigtere, größere Perſonenzahl fordernde Handlung. Das Schickſal ergibt ſich als immanentes Geſetz aus den Wirkungen und Gegen- wirkungen der Freiheit. Der Chor, die Verbindung des Drama mit Lyrik,
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die alte Komödie doch ein blos beziehungsweiſer: die neuere Komödie der
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geprellten Väter, leichtſinnigen Söhne, Dirnen, ſoldatiſchen Aufſchneider,
Trunkenbolde u. ſ. w. ſind mehr Masken, als wirkliche Einzelweſen, und
es wird dieß folgenreich für den Uebertritt des claſſiſchen Styls in den
weſentlich charakteriſtiſchen modernen durch den Einfluß des Abbilds der
neueren Komödie der Griechen, der römiſchen, auf die romaniſche Literatur.
Obwohl nach dieſer Seite nur ein relativer Gegenſatz, konnte eine ſolche
Form doch im Alterthum nicht gleichzeitig mit der rein claſſiſchen auftreten,
dort iſt der Unterſchied vielmehr ein ſucceſſiver und es verhält ſich damit wie
mit dem Uebergange der antiken Plaſtik und Malerei in das Realiſtiſche,
Sittenbildliche; die Erſcheinung iſt aber als geſchichtliches Vorbild eines
bleibenden, der weitern, logiſchen Eintheilung angehörigen Gegenſatzes
durchaus wichtig und weſentlich. Ein ähnlicher Gegenſatz tritt nun, eben-
falls geſchichtlich, auch in der antiken Tragödie ein, denn Euripides faßt
die Menſchen ſchon empiriſch, ſubjectiv, pſychologiſch, vielſeitig, reicher colo-
rirt, ſkeptiſch; aber dieſe Behandlung ſteht im Widerſpruche mit dem großen
heroiſch mythiſchen Stoffe, der doch beibehalten iſt, und ſo gelangt auf
dieſem Boden die Stylwendung nicht zu derſelben Beſtimmtheit, wie auf
dem komiſchen. In ſchwacher Andeutung iſt allerdings ein Styl-Gegenſatz
auch als ein gleichzeitiger wahrzunehmen, und zwar in der Eintheilung der
Arten der Tragödie bei Ariſtoteles (Poetik C. 18.); denn die ethiſche Art,
die er unter den andern aufzählt, iſt ſittenbildlich, charakteriſtiſch und der
Peleus, den er neben den Phthiotiden als Beiſpiel anführt, war nicht
nur von Euripides, ſondern auch von Sophokles behandelt. Allein dieſe
Form war wenig ausgebildet und das pſychologiſche, rein menſchliche Ge-
mälde, auf das ſie ſchließen läßt, konnte entfernt nicht bis zu einer
Ausbildung des Charakteriſtiſchen gehen, die einen ſo entſchiedenen Ge-
genſatz der Stylrichtung innerhalb des Antiken darſtellte, wie die neuere
Komödie.
§. 907.
Der charakteriſtiſche Styl des modernen Drama’s ſtellt ſich, ohne auf
die ſagenhaften Stoffe zu verzichten, auf den Boden der naturgemäßen Wirk-
lichkeit des politiſchen, bürgerlichen, oder Privatlebens und entwickelt aus der
tieferen, auf prinzipielle Umgeſtaltung des Beſtehenden ſchneidender gerichteten
Subjectivität vielſeitiger, eine ſcheinbar widerſpruchsvolle Einheit darſtellender
und in härtere Einzelzüge auslaufender Charaktere in organiſchem Anwachſen
eine reichere, verzweigtere, größere Perſonenzahl fordernde Handlung. Das
Schickſal ergibt ſich als immanentes Geſetz aus den Wirkungen und Gegen-
wirkungen der Freiheit. Der Chor, die Verbindung des Drama mit Lyrik,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/277>, abgerufen am 03.12.2024.
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