verwechselt sehen möchten. Um was es sich handelt, zeigt sogleich die Elegie. Es ist bekannt, daß man unter ihr nach der antiken Bedeutung des Worts durchaus nicht blos ein Lied der Wehmuth und Klage zu verstehen hat, daß diese erste Form, in welcher sich bei den Joniern die lyrische aus der epischen Poesie herausbildete, anfänglich politischen und kriegerischen Inhalts war, daß sie denselben, auch nachdem sie sich anderem zugewandt, nicht so bald aufgab. Allerdings darf man behaupten, daß es Zeichen eines un- reifen Zustandes war, wenn Kallinos und Tyrtäos so starken Inhalt in solchem Gefäße niederlegten, daß dieß nur geschah, weil es überhaupt die erste lyrische Form war, die man gefunden und in die nun zuerst der noch ganz von heroisch mannhaften Gefühlen geschwellte, noch wenig lyrisch erweichte Sinn sich warf; denn indem das clegische Versmaaß dem gewaltig und feierlich vorstrebenden Hexameter den zurückweichenden, verathmenden, Grenze setzenden, abschließenden Pentameter hinzufügte, war auch für den Inhalt ein sanftes Nachlassen gefordert, der verhauchende Vers sollte das Ver- hauchen der Seelenbewegung darstellen. Es liegt in dieser Bewegungs- weise ein Abschiednehmen von der Empfindung, sie ist eben noch warm und kühlt sich eben ab. Dieß ist das eigentliche Wesen der Elegie; Weh- muth und Trauer in bestimmtem Sinn ist damit zunächst noch gar nicht ausgesagt, denn dieß wäre ein Abschiednehmen vom Inhalte der Empfin- dung, vom schönen Gegenstande. Dagegen ist allerdings zunächst eine stärkere Entbindung des gedankenhaften Elements hiemit gegeben, denn Auskühlung des Gefühls und Uebergang desselben in das denkende Be- trachten, Beruhigung durch allgemeine Wahrheiten fallen nothwendig zu- sammen. So diente denn das elegische Maaß, das Distichon, früher namentlich bei Solon, überhaupt aber jederzeit auch dem eigentlich Gnomischen, dem Aussprechen allgemein gültiger Lebensweisheit. Aber auch dieß directe Lehren entspricht seinem wahren Charakter nicht und soll durch die Behaup- tung, daß das Austönen des Gefühls ein Aufsteigen des Gedankenmäßigen sei, vielmehr nur ein erstes Durchscheinen des Letzteren gerechtfertigt werden. Die Elegie begriff ihre Bedeutung erst, als sie sich seit Archilochos in die schönen Empfindungen des von Seele durchdrungenen Lebensgenusses, auf Wein und Liebe und jede andere Stimmung warf, in welcher die Gegen- wart, der Augenblick im Schimmer des Idealen aufglänzt, und sie konnte noch einmal zu voller Blüthe erwachsen, als im Verfall des öffentlichen Lebens die römische Welt das kurze Glück im leidenschaftlichen, subjectiv entzündeteren Genusse des schönen Momentes suchte (vergl. §. 445, 1.). So heiß nun aber das Gefühl in diesen Stimmungen erglühen mag, so bringt doch eben jener Charakter des Rhythmus, das regelmäßige Absinken nach dem steigenden Hexameter, einen Ton des Verglühens nothwendig mit sich; das Gemüth ist noch ganz in seinen Zustand versenkt und beginnt
verwechſelt ſehen möchten. Um was es ſich handelt, zeigt ſogleich die Elegie. Es iſt bekannt, daß man unter ihr nach der antiken Bedeutung des Worts durchaus nicht blos ein Lied der Wehmuth und Klage zu verſtehen hat, daß dieſe erſte Form, in welcher ſich bei den Joniern die lyriſche aus der epiſchen Poeſie herausbildete, anfänglich politiſchen und kriegeriſchen Inhalts war, daß ſie denſelben, auch nachdem ſie ſich anderem zugewandt, nicht ſo bald aufgab. Allerdings darf man behaupten, daß es Zeichen eines un- reifen Zuſtandes war, wenn Kallinos und Tyrtäos ſo ſtarken Inhalt in ſolchem Gefäße niederlegten, daß dieß nur geſchah, weil es überhaupt die erſte lyriſche Form war, die man gefunden und in die nun zuerſt der noch ganz von heroiſch mannhaften Gefühlen geſchwellte, noch wenig lyriſch erweichte Sinn ſich warf; denn indem das clegiſche Versmaaß dem gewaltig und feierlich vorſtrebenden Hexameter den zurückweichenden, verathmenden, Grenze ſetzenden, abſchließenden Pentameter hinzufügte, war auch für den Inhalt ein ſanftes Nachlaſſen gefordert, der verhauchende Vers ſollte das Ver- hauchen der Seelenbewegung darſtellen. Es liegt in dieſer Bewegungs- weiſe ein Abſchiednehmen von der Empfindung, ſie iſt eben noch warm und kühlt ſich eben ab. Dieß iſt das eigentliche Weſen der Elegie; Weh- muth und Trauer in beſtimmtem Sinn iſt damit zunächſt noch gar nicht ausgeſagt, denn dieß wäre ein Abſchiednehmen vom Inhalte der Empfin- dung, vom ſchönen Gegenſtande. Dagegen iſt allerdings zunächſt eine ſtärkere Entbindung des gedankenhaften Elements hiemit gegeben, denn Auskühlung des Gefühls und Uebergang deſſelben in das denkende Be- trachten, Beruhigung durch allgemeine Wahrheiten fallen nothwendig zu- ſammen. So diente denn das elegiſche Maaß, das Diſtichon, früher namentlich bei Solon, überhaupt aber jederzeit auch dem eigentlich Gnomiſchen, dem Ausſprechen allgemein gültiger Lebensweisheit. Aber auch dieß directe Lehren entſpricht ſeinem wahren Charakter nicht und ſoll durch die Behaup- tung, daß das Austönen des Gefühls ein Aufſteigen des Gedankenmäßigen ſei, vielmehr nur ein erſtes Durchſcheinen des Letzteren gerechtfertigt werden. Die Elegie begriff ihre Bedeutung erſt, als ſie ſich ſeit Archilochos in die ſchönen Empfindungen des von Seele durchdrungenen Lebensgenuſſes, auf Wein und Liebe und jede andere Stimmung warf, in welcher die Gegen- wart, der Augenblick im Schimmer des Idealen aufglänzt, und ſie konnte noch einmal zu voller Blüthe erwachſen, als im Verfall des öffentlichen Lebens die römiſche Welt das kurze Glück im leidenſchaftlichen, ſubjectiv entzündeteren Genuſſe des ſchönen Momentes ſuchte (vergl. §. 445, 1.). So heiß nun aber das Gefühl in dieſen Stimmungen erglühen mag, ſo bringt doch eben jener Charakter des Rhythmus, das regelmäßige Abſinken nach dem ſteigenden Hexameter, einen Ton des Verglühens nothwendig mit ſich; das Gemüth iſt noch ganz in ſeinen Zuſtand verſenkt und beginnt
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[1368/0232]
verwechſelt ſehen möchten. Um was es ſich handelt, zeigt ſogleich die Elegie.
Es iſt bekannt, daß man unter ihr nach der antiken Bedeutung des Worts
durchaus nicht blos ein Lied der Wehmuth und Klage zu verſtehen hat,
daß dieſe erſte Form, in welcher ſich bei den Joniern die lyriſche aus der
epiſchen Poeſie herausbildete, anfänglich politiſchen und kriegeriſchen Inhalts
war, daß ſie denſelben, auch nachdem ſie ſich anderem zugewandt, nicht ſo
bald aufgab. Allerdings darf man behaupten, daß es Zeichen eines un-
reifen Zuſtandes war, wenn Kallinos und Tyrtäos ſo ſtarken Inhalt in
ſolchem Gefäße niederlegten, daß dieß nur geſchah, weil es überhaupt die erſte
lyriſche Form war, die man gefunden und in die nun zuerſt der noch ganz
von heroiſch mannhaften Gefühlen geſchwellte, noch wenig lyriſch erweichte
Sinn ſich warf; denn indem das clegiſche Versmaaß dem gewaltig und
feierlich vorſtrebenden Hexameter den zurückweichenden, verathmenden, Grenze
ſetzenden, abſchließenden Pentameter hinzufügte, war auch für den Inhalt
ein ſanftes Nachlaſſen gefordert, der verhauchende Vers ſollte das Ver-
hauchen der Seelenbewegung darſtellen. Es liegt in dieſer Bewegungs-
weiſe ein Abſchiednehmen von der Empfindung, ſie iſt eben noch warm
und kühlt ſich eben ab. Dieß iſt das eigentliche Weſen der Elegie; Weh-
muth und Trauer in beſtimmtem Sinn iſt damit zunächſt noch gar nicht
ausgeſagt, denn dieß wäre ein Abſchiednehmen vom Inhalte der Empfin-
dung, vom ſchönen Gegenſtande. Dagegen iſt allerdings zunächſt eine
ſtärkere Entbindung des gedankenhaften Elements hiemit gegeben, denn
Auskühlung des Gefühls und Uebergang deſſelben in das denkende Be-
trachten, Beruhigung durch allgemeine Wahrheiten fallen nothwendig zu-
ſammen. So diente denn das elegiſche Maaß, das Diſtichon, früher namentlich
bei Solon, überhaupt aber jederzeit auch dem eigentlich Gnomiſchen, dem
Ausſprechen allgemein gültiger Lebensweisheit. Aber auch dieß directe
Lehren entſpricht ſeinem wahren Charakter nicht und ſoll durch die Behaup-
tung, daß das Austönen des Gefühls ein Aufſteigen des Gedankenmäßigen
ſei, vielmehr nur ein erſtes Durchſcheinen des Letzteren gerechtfertigt werden.
Die Elegie begriff ihre Bedeutung erſt, als ſie ſich ſeit Archilochos in die
ſchönen Empfindungen des von Seele durchdrungenen Lebensgenuſſes, auf
Wein und Liebe und jede andere Stimmung warf, in welcher die Gegen-
wart, der Augenblick im Schimmer des Idealen aufglänzt, und ſie konnte
noch einmal zu voller Blüthe erwachſen, als im Verfall des öffentlichen
Lebens die römiſche Welt das kurze Glück im leidenſchaftlichen, ſubjectiv
entzündeteren Genuſſe des ſchönen Momentes ſuchte (vergl. §. 445, 1.).
So heiß nun aber das Gefühl in dieſen Stimmungen erglühen mag, ſo
bringt doch eben jener Charakter des Rhythmus, das regelmäßige Abſinken
nach dem ſteigenden Hexameter, einen Ton des Verglühens nothwendig mit
ſich; das Gemüth iſt noch ganz in ſeinen Zuſtand verſenkt und beginnt
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/232>, abgerufen am 23.11.2024.
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