fortschreitet, so werden sich Hinter- und Vordergrund im Verlaufe zusammen- bewegen: Dorothea tritt aus jenem auf diesen herüber, wird mit Hermann vereinigt und deutsche Gesinnung stellt sich als fester Damm gegen das Chaos, aus dem sie kommt. Die Erscheinungen, welche, in einem mittleren Maaße von bloßer Andeutung und voller Ausführung gehalten, die Haupt- gruppe umgeben, wie die Bewohner des Städtchens in unserer Idylle, kann man den Mittelgrund nennen. Der Dichter wird hier wieder Einige herausgreifen, um sie mit der Hauptgruppe auf den Vordergrund einzu- führen; so stellt Göthe den Pfarrer und Apotheker in helleres Mittellicht, so nimmt die Ilias aus dem dunkeln Gewimmel der Streiter Einzelne her- aus und bringt sie im Kampfe mit den Haupthelden auf das Proscenium. Durch solche Mittel läuft denn schließlich unbeschadet der deutlichen Scheidung Nahes und Fernes mit stärkeren und dünneren, längeren und kürzeren Fäden in die Eine Hauptgruppe, wie die Welt der Ilias in die Entzweiung des Achilles mit Agamemnon, sein Grollen, sein Hervorbrechen nach dem Tode des Patroklus und die Besiegung Hektor's zusammen; die Phantasie genießt sich in der freien Bewegung, von da wieder hinaus in den Hintergrund, das Schicksal Troja's und die Ahnung der großen griechischen Zukunft, und wieder zurück zu dem bindenden Mittelpuncte des Vordergrunds zu laufen. Dieser ist denn also enthalten in der eigentlichen, unmittelbar vor Augen liegenden Handlung. Sie muß als organisches Band der Einheit durch- greifen: diese alte Lehre des Aristoteles, der hierin im Wesentlichen Epos und Tragödie, ohne den Unterschied der liberaleren Form, worin das Gesetz im Epos herrscht, zu verkennen, unter dieselbe Forderung befaßt, haben wir schon oben, wo vom Inhalte des Epos als solchem die Rede war, angeführt. Einfach und schlagend setzt Aristoteles hinzu, um diese Einheit durchführen zu können, habe Homer nicht den ganzen trojanischen Krieg be- handelt, weil er zu groß und nicht leicht zu übersehen war, sondern einen Theil, der sich durch seine Episoden zum Bilde des Ganzen erweitert. Die Auseinanderhaltung eines Vordergrunds und Hintergrunds, die wir zunächst als mittleres Moment der Bindung des Einen und Vielen gefordert haben, gehört mehr der räumlichen, extensiven Seite an, sofern auch in der Poesie, da sie für die innere Anschauung darstellt, allerdings von einer solchen die Rede sein kann; die Handlung aber verlangt eine speziellere Bindung in zeitlicher Form und wir haben hier besonders deutlich jene in §. 500, 2. für alle Composition als wesentlich ausgesprochene Erscheinung eines Dreischlags in der einfachen Unterscheidung des Aristoteles: Anfang, Mitte, Ende; d. h. Darstellung der Sachlage mit den Keimen der Verwicklung, die Verwicklung mit ihren Kämpfen, deren Gipfel die Katastrophe ist, welche ebensosehr als das Ende der Mitte, wie als der Anfang des Endes erscheint, und das Ende d. h. die schließliche Lösung,
fortſchreitet, ſo werden ſich Hinter- und Vordergrund im Verlaufe zuſammen- bewegen: Dorothea tritt aus jenem auf dieſen herüber, wird mit Hermann vereinigt und deutſche Geſinnung ſtellt ſich als feſter Damm gegen das Chaos, aus dem ſie kommt. Die Erſcheinungen, welche, in einem mittleren Maaße von bloßer Andeutung und voller Ausführung gehalten, die Haupt- gruppe umgeben, wie die Bewohner des Städtchens in unſerer Idylle, kann man den Mittelgrund nennen. Der Dichter wird hier wieder Einige herausgreifen, um ſie mit der Hauptgruppe auf den Vordergrund einzu- führen; ſo ſtellt Göthe den Pfarrer und Apotheker in helleres Mittellicht, ſo nimmt die Ilias aus dem dunkeln Gewimmel der Streiter Einzelne her- aus und bringt ſie im Kampfe mit den Haupthelden auf das Proſcenium. Durch ſolche Mittel läuft denn ſchließlich unbeſchadet der deutlichen Scheidung Nahes und Fernes mit ſtärkeren und dünneren, längeren und kürzeren Fäden in die Eine Hauptgruppe, wie die Welt der Ilias in die Entzweiung des Achilles mit Agamemnon, ſein Grollen, ſein Hervorbrechen nach dem Tode des Patroklus und die Beſiegung Hektor’s zuſammen; die Phantaſie genießt ſich in der freien Bewegung, von da wieder hinaus in den Hintergrund, das Schickſal Troja’s und die Ahnung der großen griechiſchen Zukunft, und wieder zurück zu dem bindenden Mittelpuncte des Vordergrunds zu laufen. Dieſer iſt denn alſo enthalten in der eigentlichen, unmittelbar vor Augen liegenden Handlung. Sie muß als organiſches Band der Einheit durch- greifen: dieſe alte Lehre des Ariſtoteles, der hierin im Weſentlichen Epos und Tragödie, ohne den Unterſchied der liberaleren Form, worin das Geſetz im Epos herrſcht, zu verkennen, unter dieſelbe Forderung befaßt, haben wir ſchon oben, wo vom Inhalte des Epos als ſolchem die Rede war, angeführt. Einfach und ſchlagend ſetzt Ariſtoteles hinzu, um dieſe Einheit durchführen zu können, habe Homer nicht den ganzen trojaniſchen Krieg be- handelt, weil er zu groß und nicht leicht zu überſehen war, ſondern einen Theil, der ſich durch ſeine Epiſoden zum Bilde des Ganzen erweitert. Die Auseinanderhaltung eines Vordergrunds und Hintergrunds, die wir zunächſt als mittleres Moment der Bindung des Einen und Vielen gefordert haben, gehört mehr der räumlichen, extenſiven Seite an, ſofern auch in der Poeſie, da ſie für die innere Anſchauung darſtellt, allerdings von einer ſolchen die Rede ſein kann; die Handlung aber verlangt eine ſpeziellere Bindung in zeitlicher Form und wir haben hier beſonders deutlich jene in §. 500, 2. für alle Compoſition als weſentlich ausgeſprochene Erſcheinung eines Dreiſchlags in der einfachen Unterſcheidung des Ariſtoteles: Anfang, Mitte, Ende; d. h. Darſtellung der Sachlage mit den Keimen der Verwicklung, die Verwicklung mit ihren Kämpfen, deren Gipfel die Kataſtrophe iſt, welche ebenſoſehr als das Ende der Mitte, wie als der Anfang des Endes erſcheint, und das Ende d. h. die ſchließliche Löſung,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0146"n="1282"/>
fortſchreitet, ſo werden ſich Hinter- und Vordergrund im Verlaufe zuſammen-<lb/>
bewegen: Dorothea tritt aus jenem auf dieſen herüber, wird mit Hermann<lb/>
vereinigt und deutſche Geſinnung ſtellt ſich als feſter Damm gegen das<lb/>
Chaos, aus dem ſie kommt. Die Erſcheinungen, welche, in einem mittleren<lb/>
Maaße von bloßer Andeutung und voller Ausführung gehalten, die Haupt-<lb/>
gruppe umgeben, wie die Bewohner des Städtchens in unſerer Idylle,<lb/>
kann man den Mittelgrund nennen. Der Dichter wird hier wieder Einige<lb/>
herausgreifen, um ſie mit der Hauptgruppe auf den Vordergrund einzu-<lb/>
führen; ſo ſtellt Göthe den Pfarrer und Apotheker in helleres Mittellicht,<lb/>ſo nimmt die Ilias aus dem dunkeln Gewimmel der Streiter Einzelne her-<lb/>
aus und bringt ſie im Kampfe mit den Haupthelden auf das Proſcenium.<lb/>
Durch ſolche Mittel läuft denn ſchließlich unbeſchadet der deutlichen Scheidung<lb/>
Nahes und Fernes mit ſtärkeren und dünneren, längeren und kürzeren Fäden<lb/>
in die Eine Hauptgruppe, wie die Welt der Ilias in die Entzweiung des<lb/>
Achilles mit Agamemnon, ſein Grollen, ſein Hervorbrechen nach dem Tode<lb/>
des Patroklus und die Beſiegung Hektor’s zuſammen; die Phantaſie genießt<lb/>ſich in der freien Bewegung, von da wieder hinaus in den Hintergrund,<lb/>
das Schickſal Troja’s und die Ahnung der großen griechiſchen Zukunft, und<lb/>
wieder zurück zu dem bindenden Mittelpuncte des Vordergrunds zu laufen.<lb/>
Dieſer iſt denn alſo enthalten in der eigentlichen, unmittelbar vor Augen<lb/>
liegenden <hirendition="#g">Handlung</hi>. Sie muß als organiſches Band der Einheit durch-<lb/>
greifen: dieſe alte Lehre des Ariſtoteles, der hierin im Weſentlichen Epos<lb/>
und Tragödie, ohne den Unterſchied der liberaleren Form, worin das Geſetz<lb/>
im Epos herrſcht, zu verkennen, unter dieſelbe Forderung befaßt, haben<lb/>
wir ſchon oben, wo vom Inhalte des Epos als ſolchem die Rede war,<lb/>
angeführt. Einfach und ſchlagend ſetzt Ariſtoteles hinzu, um dieſe Einheit<lb/>
durchführen zu können, habe Homer nicht den ganzen trojaniſchen Krieg be-<lb/>
handelt, weil er zu groß und nicht leicht zu überſehen war, ſondern einen<lb/>
Theil, der ſich durch ſeine Epiſoden zum Bilde des Ganzen erweitert.<lb/>
Die Auseinanderhaltung eines Vordergrunds und Hintergrunds, die wir<lb/>
zunächſt als mittleres Moment der Bindung des Einen und Vielen gefordert<lb/>
haben, gehört mehr der räumlichen, extenſiven Seite an, ſofern auch in der<lb/>
Poeſie, da ſie für die innere Anſchauung darſtellt, allerdings von einer<lb/>ſolchen die Rede ſein kann; die Handlung aber verlangt eine ſpeziellere<lb/>
Bindung in zeitlicher Form und wir haben hier beſonders deutlich jene in<lb/>
§. 500, <hirendition="#sub">2</hi>. für alle Compoſition als weſentlich ausgeſprochene Erſcheinung<lb/>
eines <hirendition="#g">Dreiſchlags</hi> in der einfachen Unterſcheidung des Ariſtoteles:<lb/>
Anfang, Mitte, Ende; d. h. Darſtellung der Sachlage mit den Keimen<lb/>
der Verwicklung, die Verwicklung mit ihren Kämpfen, deren Gipfel die<lb/>
Kataſtrophe iſt, welche ebenſoſehr als das Ende der Mitte, wie als der<lb/>
Anfang des Endes erſcheint, und das Ende d. h. die ſchließliche Löſung,<lb/></hi></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[1282/0146]
fortſchreitet, ſo werden ſich Hinter- und Vordergrund im Verlaufe zuſammen-
bewegen: Dorothea tritt aus jenem auf dieſen herüber, wird mit Hermann
vereinigt und deutſche Geſinnung ſtellt ſich als feſter Damm gegen das
Chaos, aus dem ſie kommt. Die Erſcheinungen, welche, in einem mittleren
Maaße von bloßer Andeutung und voller Ausführung gehalten, die Haupt-
gruppe umgeben, wie die Bewohner des Städtchens in unſerer Idylle,
kann man den Mittelgrund nennen. Der Dichter wird hier wieder Einige
herausgreifen, um ſie mit der Hauptgruppe auf den Vordergrund einzu-
führen; ſo ſtellt Göthe den Pfarrer und Apotheker in helleres Mittellicht,
ſo nimmt die Ilias aus dem dunkeln Gewimmel der Streiter Einzelne her-
aus und bringt ſie im Kampfe mit den Haupthelden auf das Proſcenium.
Durch ſolche Mittel läuft denn ſchließlich unbeſchadet der deutlichen Scheidung
Nahes und Fernes mit ſtärkeren und dünneren, längeren und kürzeren Fäden
in die Eine Hauptgruppe, wie die Welt der Ilias in die Entzweiung des
Achilles mit Agamemnon, ſein Grollen, ſein Hervorbrechen nach dem Tode
des Patroklus und die Beſiegung Hektor’s zuſammen; die Phantaſie genießt
ſich in der freien Bewegung, von da wieder hinaus in den Hintergrund,
das Schickſal Troja’s und die Ahnung der großen griechiſchen Zukunft, und
wieder zurück zu dem bindenden Mittelpuncte des Vordergrunds zu laufen.
Dieſer iſt denn alſo enthalten in der eigentlichen, unmittelbar vor Augen
liegenden Handlung. Sie muß als organiſches Band der Einheit durch-
greifen: dieſe alte Lehre des Ariſtoteles, der hierin im Weſentlichen Epos
und Tragödie, ohne den Unterſchied der liberaleren Form, worin das Geſetz
im Epos herrſcht, zu verkennen, unter dieſelbe Forderung befaßt, haben
wir ſchon oben, wo vom Inhalte des Epos als ſolchem die Rede war,
angeführt. Einfach und ſchlagend ſetzt Ariſtoteles hinzu, um dieſe Einheit
durchführen zu können, habe Homer nicht den ganzen trojaniſchen Krieg be-
handelt, weil er zu groß und nicht leicht zu überſehen war, ſondern einen
Theil, der ſich durch ſeine Epiſoden zum Bilde des Ganzen erweitert.
Die Auseinanderhaltung eines Vordergrunds und Hintergrunds, die wir
zunächſt als mittleres Moment der Bindung des Einen und Vielen gefordert
haben, gehört mehr der räumlichen, extenſiven Seite an, ſofern auch in der
Poeſie, da ſie für die innere Anſchauung darſtellt, allerdings von einer
ſolchen die Rede ſein kann; die Handlung aber verlangt eine ſpeziellere
Bindung in zeitlicher Form und wir haben hier beſonders deutlich jene in
§. 500, 2. für alle Compoſition als weſentlich ausgeſprochene Erſcheinung
eines Dreiſchlags in der einfachen Unterſcheidung des Ariſtoteles:
Anfang, Mitte, Ende; d. h. Darſtellung der Sachlage mit den Keimen
der Verwicklung, die Verwicklung mit ihren Kämpfen, deren Gipfel die
Kataſtrophe iſt, welche ebenſoſehr als das Ende der Mitte, wie als der
Anfang des Endes erſcheint, und das Ende d. h. die ſchließliche Löſung,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/146>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.