der Ablauf der Katastrophe bis zum eigentlichen äußeren Schluß. In der Ilias bildet den Anfang Zorn und Grollen des Achilles mit der ganzen Lage der Griechen und Trojaner im Hintergrund, die Mitte sein Vorbrechen zur Theilnahme am Streit in Folge des Tods des Patroklus bis zum Kampfe mit Hektor; der Tod des letzteren, mit Troja's sicherem Untergang im Hintergrund, ist die Katastrophe, die ebensosehr die Mitte abschließt, als den Ablauf eröffnet, dessen eigentlicher Inhalt in der Zurückgabe des Leich- nams und dem Begräbniß des Patroklus liegt. So besteht in der Odyssee aus den Schicksalen des Helden unmittelbar vor seiner Rückkehr nach Ithaka mit Einschluß dessen, was er vor Beginn des Epos erlitten hat und was in den Aufenthalt bei den Phäaken als Erzählung eingeschoben ist, der An- fang; die Scenen nach der Rückkehr, die sämmtlich in den Vorbereitungen zum Kampfe mit den Freiern zusammenlaufen, bilden die Mitte oder Ver- wicklung; mit dem Kampfe selbst ist das Gedicht auf seiner Höhe, unmittelbar an der Katastrophe, die Entscheidung desselben ist Anfang der Lösung, des Ablaufs, und was noch folgt, die Reinigung des Saals und Hauses, Bestrafung der Treulosen, die Scene mit Penelope, dann die wahrscheinlich späteren Zuthaten: der Auftritt in der Unterwelt, die Begrüßung des Laertes und Dämpfung des Aufruhrs, der eigentliche Ablauf, das Ende. Im Nibelungen-Liede stellt der ganze Theil bis zu Chriemhildens zweiter Ver- mählung ebensosehr die Exposition für das Folgende, als ein eigenes Epos mit Anfang (bis zu dem Streite der Weiber), Mitte (von da bis zur Er- mordung Sigfried's), Ende (Klage, Trauer, neue Kränkung der Chriemhilde durch den Raub des Schatzes) dar; im Folgenden waltet Sigfried's Geist als Nemesis im Rachedurst der Chriemhilde: Anfang bis zu der Einladung der Nibelungen, Mitte von den ersten Ausbrüchen des feindseligen Geistes, nachdem sie in Etzelenland angekommen, bis zu der Ermordung Gunther's und Hagen's im Gefängniß, Ende das Gericht, das Dieterich von Bern an Chriemhilde vollstreckt, und, wenn sie mit dem Epos noch verbunden wäre, die Klage. Die Ilias erscheint als schlußlos nur dann, wenn man ver- kennt, daß der Dichter aus dem großen Cyklus eine Parthie herausnehmen mußte, in der sich als in einem engen Ring ein Bild des Ganzen geben ließ, sie erscheint als über ihren natürlichen Schluß fortlaufend nur dann, wenn man verkennt, daß ein Epos voller ausathmen muß, als ein Drama. Die Annahme einer gewissen Schlußlosigkeit des Epos hat nur so viel Wahres, daß diese Gattung mehr, als andere Kunstwerke, vielleicht am meisten noch dem Gemälde ähnlich, das unbestimmte Bewußtsein erregt, daß die Kette der Dinge und Begebenheiten, obwohl hier eine ideale Ein- heit aus der empirischen Unendlichkeit einen Ausschnitt gibt, über diesen Ausschnitt fortläuft. Im Romane namentlich mag es zweifelhaft sein, ob wir über das Ende der Nebenpersonen etwas mehr oder weniger erfahren sollten. Vergl. hierüber die Anm. zu §. 501.
der Ablauf der Kataſtrophe bis zum eigentlichen äußeren Schluß. In der Ilias bildet den Anfang Zorn und Grollen des Achilles mit der ganzen Lage der Griechen und Trojaner im Hintergrund, die Mitte ſein Vorbrechen zur Theilnahme am Streit in Folge des Tods des Patroklus bis zum Kampfe mit Hektor; der Tod des letzteren, mit Troja’s ſicherem Untergang im Hintergrund, iſt die Kataſtrophe, die ebenſoſehr die Mitte abſchließt, als den Ablauf eröffnet, deſſen eigentlicher Inhalt in der Zurückgabe des Leich- nams und dem Begräbniß des Patroklus liegt. So beſteht in der Odyſſee aus den Schickſalen des Helden unmittelbar vor ſeiner Rückkehr nach Ithaka mit Einſchluß deſſen, was er vor Beginn des Epos erlitten hat und was in den Aufenthalt bei den Phäaken als Erzählung eingeſchoben iſt, der An- fang; die Scenen nach der Rückkehr, die ſämmtlich in den Vorbereitungen zum Kampfe mit den Freiern zuſammenlaufen, bilden die Mitte oder Ver- wicklung; mit dem Kampfe ſelbſt iſt das Gedicht auf ſeiner Höhe, unmittelbar an der Kataſtrophe, die Entſcheidung deſſelben iſt Anfang der Löſung, des Ablaufs, und was noch folgt, die Reinigung des Saals und Hauſes, Beſtrafung der Treuloſen, die Scene mit Penelope, dann die wahrſcheinlich ſpäteren Zuthaten: der Auftritt in der Unterwelt, die Begrüßung des Laertes und Dämpfung des Aufruhrs, der eigentliche Ablauf, das Ende. Im Nibelungen-Liede ſtellt der ganze Theil bis zu Chriemhildens zweiter Ver- mählung ebenſoſehr die Expoſition für das Folgende, als ein eigenes Epos mit Anfang (bis zu dem Streite der Weiber), Mitte (von da bis zur Er- mordung Sigfried’s), Ende (Klage, Trauer, neue Kränkung der Chriemhilde durch den Raub des Schatzes) dar; im Folgenden waltet Sigfried’s Geiſt als Nemeſis im Rachedurſt der Chriemhilde: Anfang bis zu der Einladung der Nibelungen, Mitte von den erſten Ausbrüchen des feindſeligen Geiſtes, nachdem ſie in Etzelenland angekommen, bis zu der Ermordung Gunther’s und Hagen’s im Gefängniß, Ende das Gericht, das Dieterich von Bern an Chriemhilde vollſtreckt, und, wenn ſie mit dem Epos noch verbunden wäre, die Klage. Die Ilias erſcheint als ſchlußlos nur dann, wenn man ver- kennt, daß der Dichter aus dem großen Cyklus eine Parthie herausnehmen mußte, in der ſich als in einem engen Ring ein Bild des Ganzen geben ließ, ſie erſcheint als über ihren natürlichen Schluß fortlaufend nur dann, wenn man verkennt, daß ein Epos voller ausathmen muß, als ein Drama. Die Annahme einer gewiſſen Schlußloſigkeit des Epos hat nur ſo viel Wahres, daß dieſe Gattung mehr, als andere Kunſtwerke, vielleicht am meiſten noch dem Gemälde ähnlich, das unbeſtimmte Bewußtſein erregt, daß die Kette der Dinge und Begebenheiten, obwohl hier eine ideale Ein- heit aus der empiriſchen Unendlichkeit einen Ausſchnitt gibt, über dieſen Ausſchnitt fortläuft. Im Romane namentlich mag es zweifelhaft ſein, ob wir über das Ende der Nebenperſonen etwas mehr oder weniger erfahren ſollten. Vergl. hierüber die Anm. zu §. 501.
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der Ablauf der Kataſtrophe bis zum eigentlichen äußeren Schluß. In der
Ilias bildet den Anfang Zorn und Grollen des Achilles mit der ganzen
Lage der Griechen und Trojaner im Hintergrund, die Mitte ſein Vorbrechen
zur Theilnahme am Streit in Folge des Tods des Patroklus bis zum Kampfe
mit Hektor; der Tod des letzteren, mit Troja’s ſicherem Untergang im
Hintergrund, iſt die Kataſtrophe, die ebenſoſehr die Mitte abſchließt, als
den Ablauf eröffnet, deſſen eigentlicher Inhalt in der Zurückgabe des Leich-
nams und dem Begräbniß des Patroklus liegt. So beſteht in der Odyſſee
aus den Schickſalen des Helden unmittelbar vor ſeiner Rückkehr nach Ithaka
mit Einſchluß deſſen, was er vor Beginn des Epos erlitten hat und was
in den Aufenthalt bei den Phäaken als Erzählung eingeſchoben iſt, der An-
fang; die Scenen nach der Rückkehr, die ſämmtlich in den Vorbereitungen
zum Kampfe mit den Freiern zuſammenlaufen, bilden die Mitte oder Ver-
wicklung; mit dem Kampfe ſelbſt iſt das Gedicht auf ſeiner Höhe, unmittelbar
an der Kataſtrophe, die Entſcheidung deſſelben iſt Anfang der Löſung, des
Ablaufs, und was noch folgt, die Reinigung des Saals und Hauſes,
Beſtrafung der Treuloſen, die Scene mit Penelope, dann die wahrſcheinlich
ſpäteren Zuthaten: der Auftritt in der Unterwelt, die Begrüßung des Laertes
und Dämpfung des Aufruhrs, der eigentliche Ablauf, das Ende. Im
Nibelungen-Liede ſtellt der ganze Theil bis zu Chriemhildens zweiter Ver-
mählung ebenſoſehr die Expoſition für das Folgende, als ein eigenes Epos
mit Anfang (bis zu dem Streite der Weiber), Mitte (von da bis zur Er-
mordung Sigfried’s), Ende (Klage, Trauer, neue Kränkung der Chriemhilde
durch den Raub des Schatzes) dar; im Folgenden waltet Sigfried’s Geiſt
als Nemeſis im Rachedurſt der Chriemhilde: Anfang bis zu der Einladung
der Nibelungen, Mitte von den erſten Ausbrüchen des feindſeligen Geiſtes,
nachdem ſie in Etzelenland angekommen, bis zu der Ermordung Gunther’s
und Hagen’s im Gefängniß, Ende das Gericht, das Dieterich von Bern an
Chriemhilde vollſtreckt, und, wenn ſie mit dem Epos noch verbunden wäre,
die Klage. Die Ilias erſcheint als ſchlußlos nur dann, wenn man ver-
kennt, daß der Dichter aus dem großen Cyklus eine Parthie herausnehmen
mußte, in der ſich als in einem engen Ring ein Bild des Ganzen geben
ließ, ſie erſcheint als über ihren natürlichen Schluß fortlaufend nur dann,
wenn man verkennt, daß ein Epos voller ausathmen muß, als ein Drama.
Die Annahme einer gewiſſen Schlußloſigkeit des Epos hat nur ſo viel
Wahres, daß dieſe Gattung mehr, als andere Kunſtwerke, vielleicht am
meiſten noch dem Gemälde ähnlich, das unbeſtimmte Bewußtſein erregt,
daß die Kette der Dinge und Begebenheiten, obwohl hier eine ideale Ein-
heit aus der empiriſchen Unendlichkeit einen Ausſchnitt gibt, über dieſen
Ausſchnitt fortläuft. Im Romane namentlich mag es zweifelhaft ſein, ob
wir über das Ende der Nebenperſonen etwas mehr oder weniger erfahren
ſollten. Vergl. hierüber die Anm. zu §. 501.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/147>, abgerufen am 21.11.2024.
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