alles Umgebende, vorzüglich über die Natur ausgedehnt, und dieß hat die tiefere Bedeutung, daß ja die Menschenwelt selbst und die Handlung unter den Standpunct des Seins, also der Natur gerückt ist, daher durch die Hinausführung in diese nur ursprünglich Verwandtes inniger aufeinander bezogen wird. Im Ganzen und Großen ist über die Selbständigkeit der Theile nur zu wiederholen, was schon zum vorh. §. gesagt ist: dem Dichter gilt Alles ebensosehr als ein Glied in der allgemeinen Causalität, wie als freie Erscheinung des Ganzen, worin die Causalität erschöpft ist; das Ein- zelne ist eine Welt für sich, ein Himmelskörper, frei schwebend, doch aber mit dem Andern durch den tiefen Zug der Einheit verbunden; "wie ist es Ihnen gelungen, den großen, so weit auseinandergeworfenen Kreis und Schauplatz von Personen und Begebenheiten wieder so eng zusammenzu- rücken! Es steht da wie ein Planetensystem" (Schiller an Göthe a. a. O. Th. 2, S. 80).
2. Es bedarf aber nun allerdings eines bestimmteren Bandes zwischen der Einheit (der Handlung) und der Vielheit, wie z. B. Leonardo da Vinci sich nicht begnügte, die dreizehn Personen seines Abendmahls durch die Einheit in der Mannigfaltigkeit des Eindrucks der Worte Christi zusammen- zuhalten, sondern außerdem die Jünger zu drei und drei in ungesuchten Stellungen gruppirte. Dieß ist bei einer so umfangreichen Composition wie die epische doppelt nothwendig; man hat dieselbe mit der Ausdehnung auf einer unabsehlichen Fläche im Gegensatze gegen den Punct oder die Linie verglichen, worauf das Drama sich concentrirt (W. v. Humboldt a. a. O. S. 170); wir müssen uns erinnern, wie der Dichter die Grenzen der bildenden Kunst hinter sich läßt, alles Sichtbare und Unsichtbare und jenes nach allen Erscheinungsseiten darstellt; keiner macht daraus so sehr Ernst, als der epische, und so erhält er ein unendliches Sehfeld. Dennoch muß er in Theilung und Beschränkung dieser von Gestalten wimmelnden Fläche dem Maler gleichen, der durch einen wirklichen Ausschnitt des Raumes den unendlichen Raum mit unendlichen Gestalten nur durch die in's Unbestimmte verschwimmende Behandlung des Hintergrunds ahnen läßt, von diesem aber einen (Mittel- und) Vordergrund mit der Kraft der Nähe und Deutlichkeit unterscheidet. Das treffendste Beispiel ist die flüchtige Gemeinde in Hermann und Dorothea, die mit ihrem Gewimmel und Gedränge auf die französische Revolution, auf Völker- und Menschenschicksal mit ihren großen politischen Fragen wie auf eine dunkle, ahnungsvolle Ferne hinausweist, während Hermann mit seinen Eltern und Freunden den Vordergrund bildet (W. v. Humboldt a. a. O. S. 208). So dehnt sich in der Odyssee neben dem Schicksale Troja's und Griechenlands die weite Welt mit ihren Wundern, so weit der Horizont der Griechen reichte, das Gesammte des häuslichen Lebens und der Sitte als Hintergrund aus. Da aber die Poesie zeitlich
alles Umgebende, vorzüglich über die Natur ausgedehnt, und dieß hat die tiefere Bedeutung, daß ja die Menſchenwelt ſelbſt und die Handlung unter den Standpunct des Seins, alſo der Natur gerückt iſt, daher durch die Hinausführung in dieſe nur urſprünglich Verwandtes inniger aufeinander bezogen wird. Im Ganzen und Großen iſt über die Selbſtändigkeit der Theile nur zu wiederholen, was ſchon zum vorh. §. geſagt iſt: dem Dichter gilt Alles ebenſoſehr als ein Glied in der allgemeinen Cauſalität, wie als freie Erſcheinung des Ganzen, worin die Cauſalität erſchöpft iſt; das Ein- zelne iſt eine Welt für ſich, ein Himmelskörper, frei ſchwebend, doch aber mit dem Andern durch den tiefen Zug der Einheit verbunden; „wie iſt es Ihnen gelungen, den großen, ſo weit auseinandergeworfenen Kreis und Schauplatz von Perſonen und Begebenheiten wieder ſo eng zuſammenzu- rücken! Es ſteht da wie ein Planetenſyſtem“ (Schiller an Göthe a. a. O. Th. 2, S. 80).
2. Es bedarf aber nun allerdings eines beſtimmteren Bandes zwiſchen der Einheit (der Handlung) und der Vielheit, wie z. B. Leonardo da Vinci ſich nicht begnügte, die dreizehn Perſonen ſeines Abendmahls durch die Einheit in der Mannigfaltigkeit des Eindrucks der Worte Chriſti zuſammen- zuhalten, ſondern außerdem die Jünger zu drei und drei in ungeſuchten Stellungen gruppirte. Dieß iſt bei einer ſo umfangreichen Compoſition wie die epiſche doppelt nothwendig; man hat dieſelbe mit der Ausdehnung auf einer unabſehlichen Fläche im Gegenſatze gegen den Punct oder die Linie verglichen, worauf das Drama ſich concentrirt (W. v. Humboldt a. a. O. S. 170); wir müſſen uns erinnern, wie der Dichter die Grenzen der bildenden Kunſt hinter ſich läßt, alles Sichtbare und Unſichtbare und jenes nach allen Erſcheinungsſeiten darſtellt; keiner macht daraus ſo ſehr Ernſt, als der epiſche, und ſo erhält er ein unendliches Sehfeld. Dennoch muß er in Theilung und Beſchränkung dieſer von Geſtalten wimmelnden Fläche dem Maler gleichen, der durch einen wirklichen Ausſchnitt des Raumes den unendlichen Raum mit unendlichen Geſtalten nur durch die in’s Unbeſtimmte verſchwimmende Behandlung des Hintergrunds ahnen läßt, von dieſem aber einen (Mittel- und) Vordergrund mit der Kraft der Nähe und Deutlichkeit unterſcheidet. Das treffendſte Beiſpiel iſt die flüchtige Gemeinde in Hermann und Dorothea, die mit ihrem Gewimmel und Gedränge auf die franzöſiſche Revolution, auf Völker- und Menſchenſchickſal mit ihren großen politiſchen Fragen wie auf eine dunkle, ahnungsvolle Ferne hinausweist, während Hermann mit ſeinen Eltern und Freunden den Vordergrund bildet (W. v. Humboldt a. a. O. S. 208). So dehnt ſich in der Odyſſee neben dem Schickſale Troja’s und Griechenlands die weite Welt mit ihren Wundern, ſo weit der Horizont der Griechen reichte, das Geſammte des häuslichen Lebens und der Sitte als Hintergrund aus. Da aber die Poeſie zeitlich
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alles Umgebende, vorzüglich über die Natur ausgedehnt, und dieß hat die
tiefere Bedeutung, daß ja die Menſchenwelt ſelbſt und die Handlung unter
den Standpunct des Seins, alſo der Natur gerückt iſt, daher durch die
Hinausführung in dieſe nur urſprünglich Verwandtes inniger aufeinander
bezogen wird. Im Ganzen und Großen iſt über die Selbſtändigkeit der
Theile nur zu wiederholen, was ſchon zum vorh. §. geſagt iſt: dem Dichter
gilt Alles ebenſoſehr als ein Glied in der allgemeinen Cauſalität, wie als
freie Erſcheinung des Ganzen, worin die Cauſalität erſchöpft iſt; das Ein-
zelne iſt eine Welt für ſich, ein Himmelskörper, frei ſchwebend, doch aber
mit dem Andern durch den tiefen Zug der Einheit verbunden; „wie iſt es
Ihnen gelungen, den großen, ſo weit auseinandergeworfenen Kreis und
Schauplatz von Perſonen und Begebenheiten wieder ſo eng zuſammenzu-
rücken! Es ſteht da wie ein Planetenſyſtem“ (Schiller an Göthe a. a. O.
Th. 2, S. 80).
2. Es bedarf aber nun allerdings eines beſtimmteren Bandes zwiſchen
der Einheit (der Handlung) und der Vielheit, wie z. B. Leonardo da Vinci
ſich nicht begnügte, die dreizehn Perſonen ſeines Abendmahls durch die
Einheit in der Mannigfaltigkeit des Eindrucks der Worte Chriſti zuſammen-
zuhalten, ſondern außerdem die Jünger zu drei und drei in ungeſuchten
Stellungen gruppirte. Dieß iſt bei einer ſo umfangreichen Compoſition
wie die epiſche doppelt nothwendig; man hat dieſelbe mit der Ausdehnung
auf einer unabſehlichen Fläche im Gegenſatze gegen den Punct oder die Linie
verglichen, worauf das Drama ſich concentrirt (W. v. Humboldt a. a. O.
S. 170); wir müſſen uns erinnern, wie der Dichter die Grenzen der
bildenden Kunſt hinter ſich läßt, alles Sichtbare und Unſichtbare und jenes
nach allen Erſcheinungsſeiten darſtellt; keiner macht daraus ſo ſehr Ernſt,
als der epiſche, und ſo erhält er ein unendliches Sehfeld. Dennoch muß
er in Theilung und Beſchränkung dieſer von Geſtalten wimmelnden Fläche
dem Maler gleichen, der durch einen wirklichen Ausſchnitt des Raumes den
unendlichen Raum mit unendlichen Geſtalten nur durch die in’s Unbeſtimmte
verſchwimmende Behandlung des Hintergrunds ahnen läßt, von dieſem aber
einen (Mittel- und) Vordergrund mit der Kraft der Nähe und Deutlichkeit
unterſcheidet. Das treffendſte Beiſpiel iſt die flüchtige Gemeinde in Hermann
und Dorothea, die mit ihrem Gewimmel und Gedränge auf die franzöſiſche
Revolution, auf Völker- und Menſchenſchickſal mit ihren großen politiſchen
Fragen wie auf eine dunkle, ahnungsvolle Ferne hinausweist, während
Hermann mit ſeinen Eltern und Freunden den Vordergrund bildet (W. v.
Humboldt a. a. O. S. 208). So dehnt ſich in der Odyſſee neben dem
Schickſale Troja’s und Griechenlands die weite Welt mit ihren Wundern,
ſo weit der Horizont der Griechen reichte, das Geſammte des häuslichen
Lebens und der Sitte als Hintergrund aus. Da aber die Poeſie zeitlich
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/145>, abgerufen am 22.11.2024.
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