Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

Einerseits herrscht in ihm weit größere Freiheit, da es die Gestalt der An-
einanderreihung von Sätzen oder ganzen Tonstücken hat, die höchst mannig-
fach sein kann, wenn nur Ein Grundcharakter und Bewegungsrhythmus
durch das Ganze geht; andrerseits ist es, je weiter es seinen Umfang aus-
dehnt, desto nothwendiger an einen Text gebunden, der es zu einem Ganzen
zusammenhält, indem in einem Tonwerk ohne Text z. B. von der Größe
eines Oratoriums oder gar einer Oper die Anschaulichkeit, das klare Her-
vortreten einer beherrschenden Grundidee sowie des Zusammenhangs der
Theile verloren gehen würde, und zwar selbst bei der größten, Beethoven
noch überragenden Fähigkeit eines Componisten, charaktervolle und eben
hiedurch anschauliche Tongemälde in umfassendem Maaßstabe hervorzubringen.
Hier, wo wir nur erst im Allgemeinen stehen, kann daher nur von kleinern
und größern "Tonstücken", nicht aber von "Tonwerken" die Rede sein. --
Das Eintheilungsprinzip, nach welchem das Folgende im Speziellern sich
gliedert, ist ein ähnliches wie dasjenige, auf welchem die Trennung von
homophoner und polyphoner Musik beruht. Das mehrtheilige und das
aus mehrern Sätzen bestehende Tonstück entsteht nämlich entweder auf dem
Wege der Vergrößerung und Vervielfältigung, der Combination und Annexa-
tion mehrerer Abschnitte, oder auf dem der Evolution, der mannigfaltigen
Ausführung eines und desselben Grundgedankens (entsprechend den poly-
phonen Themenausführungen).

§. 787.

a) Das dem einfachen musikalischen Kunstwerk noch ganz nahe stehende,
aus ihm durch einfache Vergrößerung oder Anwendung umfassenderer Formen
hervorgehende mehrtheilige Tonstück ist dasjenige, in welchem sich an
einen kurzen zweitheiligen Satz ein dritter anreiht. Die so entstehenden drei
Theile können einander gleichstehen, indem der zweite und dritte zum ersten
sich einfach verhalten wie Fortsetzung und Abschluß; oder kann, indem der erste
und zweite unter sich enger zusammengehören, der dritte, das sog. Trio, das
dann selbst wiederum zweitheilig sein darf, ihnen gegenüberstehen als besonderer
Satz mit charakteristischer, den beiden andern Sätzen contrastirend und ergän-
zend gegenübertretender Eigenthümlichkeit.

Mit der zweiten Form des zusammengesetzten Kunstwerks beginnt eine
auch nach den verdienstvollen Vorarbeiten in Marx's Compositionslehre
begrifflich schwer zu umfassende Freiheit und Mannigfaltigkeit der musikalischen
Formen. Die im §. gegebene Eintheilung des "mehrtheiligen" Tonstücks
hat jedoch ihre gute Begründung in dem Wesen der Sache, und es finden
sich daher auch beide Arten überall angewandt. Die erste ist mehr Satz-

Einerſeits herrſcht in ihm weit größere Freiheit, da es die Geſtalt der An-
einanderreihung von Sätzen oder ganzen Tonſtücken hat, die höchſt mannig-
fach ſein kann, wenn nur Ein Grundcharakter und Bewegungsrhythmus
durch das Ganze geht; andrerſeits iſt es, je weiter es ſeinen Umfang aus-
dehnt, deſto nothwendiger an einen Text gebunden, der es zu einem Ganzen
zuſammenhält, indem in einem Tonwerk ohne Text z. B. von der Größe
eines Oratoriums oder gar einer Oper die Anſchaulichkeit, das klare Her-
vortreten einer beherrſchenden Grundidee ſowie des Zuſammenhangs der
Theile verloren gehen würde, und zwar ſelbſt bei der größten, Beethoven
noch überragenden Fähigkeit eines Componiſten, charaktervolle und eben
hiedurch anſchauliche Tongemälde in umfaſſendem Maaßſtabe hervorzubringen.
Hier, wo wir nur erſt im Allgemeinen ſtehen, kann daher nur von kleinern
und größern „Tonſtücken“, nicht aber von „Tonwerken“ die Rede ſein. —
Das Eintheilungsprinzip, nach welchem das Folgende im Speziellern ſich
gliedert, iſt ein ähnliches wie dasjenige, auf welchem die Trennung von
homophoner und polyphoner Muſik beruht. Das mehrtheilige und das
aus mehrern Sätzen beſtehende Tonſtück entſteht nämlich entweder auf dem
Wege der Vergrößerung und Vervielfältigung, der Combination und Annexa-
tion mehrerer Abſchnitte, oder auf dem der Evolution, der mannigfaltigen
Ausführung eines und deſſelben Grundgedankens (entſprechend den poly-
phonen Themenausführungen).

§. 787.

α) Das dem einfachen muſikaliſchen Kunſtwerk noch ganz nahe ſtehende,
aus ihm durch einfache Vergrößerung oder Anwendung umfaſſenderer Formen
hervorgehende mehrtheilige Tonſtück iſt dasjenige, in welchem ſich an
einen kurzen zweitheiligen Satz ein dritter anreiht. Die ſo entſtehenden drei
Theile können einander gleichſtehen, indem der zweite und dritte zum erſten
ſich einfach verhalten wie Fortſetzung und Abſchluß; oder kann, indem der erſte
und zweite unter ſich enger zuſammengehören, der dritte, das ſog. Trio, das
dann ſelbſt wiederum zweitheilig ſein darf, ihnen gegenüberſtehen als beſonderer
Satz mit charakteriſtiſcher, den beiden andern Sätzen contraſtirend und ergän-
zend gegenübertretender Eigenthümlichkeit.

Mit der zweiten Form des zuſammengeſetzten Kunſtwerks beginnt eine
auch nach den verdienſtvollen Vorarbeiten in Marx’s Compoſitionslehre
begrifflich ſchwer zu umfaſſende Freiheit und Mannigfaltigkeit der muſikaliſchen
Formen. Die im §. gegebene Eintheilung des „mehrtheiligen“ Tonſtücks
hat jedoch ihre gute Begründung in dem Weſen der Sache, und es finden
ſich daher auch beide Arten überall angewandt. Die erſte iſt mehr Satz-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p>
                <pb facs="#f0190" n="952"/> <hi rendition="#et">Einer&#x017F;eits herr&#x017F;cht in ihm weit größere Freiheit, da es die Ge&#x017F;talt der An-<lb/>
einanderreihung von Sätzen oder ganzen Ton&#x017F;tücken hat, die höch&#x017F;t mannig-<lb/>
fach &#x017F;ein kann, wenn nur Ein Grundcharakter und Bewegungsrhythmus<lb/>
durch das Ganze geht; andrer&#x017F;eits i&#x017F;t es, je weiter es &#x017F;einen Umfang aus-<lb/>
dehnt, de&#x017F;to nothwendiger an einen Text gebunden, der es zu einem Ganzen<lb/>
zu&#x017F;ammenhält, indem in einem Tonwerk ohne Text z. B. von der Größe<lb/>
eines Oratoriums oder gar einer Oper die An&#x017F;chaulichkeit, das klare Her-<lb/>
vortreten einer beherr&#x017F;chenden Grundidee &#x017F;owie des Zu&#x017F;ammenhangs der<lb/>
Theile verloren gehen würde, und zwar &#x017F;elb&#x017F;t bei der größten, Beethoven<lb/>
noch überragenden Fähigkeit eines Componi&#x017F;ten, charaktervolle und eben<lb/>
hiedurch an&#x017F;chauliche Tongemälde in umfa&#x017F;&#x017F;endem Maaß&#x017F;tabe hervorzubringen.<lb/>
Hier, wo wir nur er&#x017F;t im Allgemeinen &#x017F;tehen, kann daher nur von kleinern<lb/>
und größern &#x201E;Ton&#x017F;tücken&#x201C;, nicht aber von &#x201E;Tonwerken&#x201C; die Rede &#x017F;ein. &#x2014;<lb/>
Das Eintheilungsprinzip, nach welchem das Folgende im Speziellern &#x017F;ich<lb/>
gliedert, i&#x017F;t ein ähnliches wie dasjenige, auf welchem die Trennung von<lb/>
homophoner und polyphoner Mu&#x017F;ik beruht. Das mehrtheilige und das<lb/>
aus mehrern Sätzen be&#x017F;tehende Ton&#x017F;tück ent&#x017F;teht nämlich entweder auf dem<lb/>
Wege der Vergrößerung und Vervielfältigung, der Combination und Annexa-<lb/>
tion mehrerer Ab&#x017F;chnitte, oder auf dem der Evolution, der mannigfaltigen<lb/>
Ausführung eines und de&#x017F;&#x017F;elben Grundgedankens (ent&#x017F;prechend den poly-<lb/>
phonen Themenausführungen).</hi> </p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 787.</head><lb/>
              <p> <hi rendition="#fr"><hi rendition="#i">&#x03B1;</hi>) Das dem einfachen mu&#x017F;ikali&#x017F;chen Kun&#x017F;twerk noch ganz nahe &#x017F;tehende,<lb/>
aus ihm durch einfache Vergrößerung oder Anwendung umfa&#x017F;&#x017F;enderer Formen<lb/>
hervorgehende <hi rendition="#g">mehrtheilige Ton&#x017F;tück</hi> i&#x017F;t dasjenige, in welchem &#x017F;ich an<lb/>
einen kurzen zweitheiligen Satz ein dritter anreiht. Die &#x017F;o ent&#x017F;tehenden drei<lb/>
Theile können einander gleich&#x017F;tehen, indem der zweite und dritte zum er&#x017F;ten<lb/>
&#x017F;ich einfach verhalten wie Fort&#x017F;etzung und Ab&#x017F;chluß; oder kann, indem der er&#x017F;te<lb/>
und zweite unter &#x017F;ich enger zu&#x017F;ammengehören, der dritte, das &#x017F;og. <hi rendition="#g">Trio</hi>, das<lb/>
dann &#x017F;elb&#x017F;t wiederum zweitheilig &#x017F;ein darf, ihnen gegenüber&#x017F;tehen als be&#x017F;onderer<lb/>
Satz mit charakteri&#x017F;ti&#x017F;cher, den beiden andern Sätzen contra&#x017F;tirend und ergän-<lb/>
zend gegenübertretender Eigenthümlichkeit.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">Mit der zweiten Form des zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzten Kun&#x017F;twerks beginnt eine<lb/>
auch nach den verdien&#x017F;tvollen Vorarbeiten in Marx&#x2019;s Compo&#x017F;itionslehre<lb/>
begrifflich &#x017F;chwer zu umfa&#x017F;&#x017F;ende Freiheit und Mannigfaltigkeit der mu&#x017F;ikali&#x017F;chen<lb/>
Formen. Die im §. gegebene Eintheilung des &#x201E;mehrtheiligen&#x201C; Ton&#x017F;tücks<lb/>
hat jedoch ihre gute Begründung in dem We&#x017F;en der Sache, und es finden<lb/>
&#x017F;ich daher auch beide Arten überall angewandt. Die er&#x017F;te i&#x017F;t mehr Satz-<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[952/0190] Einerſeits herrſcht in ihm weit größere Freiheit, da es die Geſtalt der An- einanderreihung von Sätzen oder ganzen Tonſtücken hat, die höchſt mannig- fach ſein kann, wenn nur Ein Grundcharakter und Bewegungsrhythmus durch das Ganze geht; andrerſeits iſt es, je weiter es ſeinen Umfang aus- dehnt, deſto nothwendiger an einen Text gebunden, der es zu einem Ganzen zuſammenhält, indem in einem Tonwerk ohne Text z. B. von der Größe eines Oratoriums oder gar einer Oper die Anſchaulichkeit, das klare Her- vortreten einer beherrſchenden Grundidee ſowie des Zuſammenhangs der Theile verloren gehen würde, und zwar ſelbſt bei der größten, Beethoven noch überragenden Fähigkeit eines Componiſten, charaktervolle und eben hiedurch anſchauliche Tongemälde in umfaſſendem Maaßſtabe hervorzubringen. Hier, wo wir nur erſt im Allgemeinen ſtehen, kann daher nur von kleinern und größern „Tonſtücken“, nicht aber von „Tonwerken“ die Rede ſein. — Das Eintheilungsprinzip, nach welchem das Folgende im Speziellern ſich gliedert, iſt ein ähnliches wie dasjenige, auf welchem die Trennung von homophoner und polyphoner Muſik beruht. Das mehrtheilige und das aus mehrern Sätzen beſtehende Tonſtück entſteht nämlich entweder auf dem Wege der Vergrößerung und Vervielfältigung, der Combination und Annexa- tion mehrerer Abſchnitte, oder auf dem der Evolution, der mannigfaltigen Ausführung eines und deſſelben Grundgedankens (entſprechend den poly- phonen Themenausführungen). §. 787. α) Das dem einfachen muſikaliſchen Kunſtwerk noch ganz nahe ſtehende, aus ihm durch einfache Vergrößerung oder Anwendung umfaſſenderer Formen hervorgehende mehrtheilige Tonſtück iſt dasjenige, in welchem ſich an einen kurzen zweitheiligen Satz ein dritter anreiht. Die ſo entſtehenden drei Theile können einander gleichſtehen, indem der zweite und dritte zum erſten ſich einfach verhalten wie Fortſetzung und Abſchluß; oder kann, indem der erſte und zweite unter ſich enger zuſammengehören, der dritte, das ſog. Trio, das dann ſelbſt wiederum zweitheilig ſein darf, ihnen gegenüberſtehen als beſonderer Satz mit charakteriſtiſcher, den beiden andern Sätzen contraſtirend und ergän- zend gegenübertretender Eigenthümlichkeit. Mit der zweiten Form des zuſammengeſetzten Kunſtwerks beginnt eine auch nach den verdienſtvollen Vorarbeiten in Marx’s Compoſitionslehre begrifflich ſchwer zu umfaſſende Freiheit und Mannigfaltigkeit der muſikaliſchen Formen. Die im §. gegebene Eintheilung des „mehrtheiligen“ Tonſtücks hat jedoch ihre gute Begründung in dem Weſen der Sache, und es finden ſich daher auch beide Arten überall angewandt. Die erſte iſt mehr Satz-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/190
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 952. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/190>, abgerufen am 23.11.2024.