haben. In erster Beziehung darf sie nicht einförmig und träg hinundher- schleichen, um den Grundton ermüdend sich herumbewegen, wie so viele Kanon- und Madrigalmelodien älterer Jahrhunderte (die Kiesewetter's Ge- schichte der Musik mittheilt); sie darf auch nicht auf den Grad von Inter- vallenwechsel sich beschränken, den die Scala anwendet, da in dieser doch zu wenig Mannigfaltigkeit der Abwechslung ist, als daß sie für sich befriedigen könnte; neben dem stetigen Fluß ist Mannigfaltigkeit der Hebung und Senkung, der Schritte und Wendungen unerläßliches Gesetz. In zweiter Beziehung aber muß die Tonfolge aus ebenso zusammengehörigen als sich gegen einander abgrenzenden Gliedern bestehen, sie ist so anzulegen, daß von einem Ton aus ein gewisser Fortgang durch mehrere Töne bis zu einem Puncte gemacht wird, mit welchem dann eine neue, von der vorher- gehenden etwas abgehende Wendung des Fortgangs deutlich eintritt, auf diese Wendung wieder eine andere folgt u. s. w. III. Indeß auch damit haben wir noch nicht die ganze musikalische Kunstform; man vergleiche z. B. eine mit einer Melodie in gleichem Schritte fortgehende nächstuntere Be- gleitungsstimme, die nicht selbst wieder melodisch geführt ist; in einer solchen kann alles bisher Geforderte beisammen sein, und doch fehlt ihr noch gar Vieles zur musikalischen Form, sie leuchtet nicht ein, sie bedeutet nichts, sie hat keinen Charakter, keine Motivirung und Natürlichkeit des Fortschritts und Verlaufs, kein Leben und keinen Schwung, sie gefällt nicht. Darin erst, auch Dieses hinzuzuthun, ruht das Geheimniß der Musik; wie es aber hinzuzuthun sei (oder was volle musikalische Form gebe, was die Melodie schließlich zur Melodie mache), dieß zu definiren, ist einer der schwierigsten Puncte der musikalischen Aesthetik. Erforderlich hiezu ist weiter 1) Dieses, daß der Fortgang nicht blos stetig, wechselnd, periodisch, sondern zugleich gebunden ist durch die in seinem Verlauf stets festgehaltene Beziehung zu einem Grundton. Ein Tonbild, ein vollkommen einheitliches Tonganzes, entsteht erst dann, wenn die Tonfolge ein Aufundabsteigen von einem Grundton aus ist, das die Beziehung zu diesem Grundton stets durch- scheinen läßt und daher am Ende auch wieder in ihn zurückgeht (ein Gesetz, das sich selbst dann nicht aufhebt, wenn ein Tonwerk aus mehreren Ton- stücken mit verschiedenen Grundtönen besteht, indem diese Grundtöne der einzelnen Stücke doch in Beziehung zu einander stehen und wo möglich der Grundton des letzten Tonstücks mit dem des ersten identisch ist). Gehen wir zum Behuf bestimmterer Orientirung zunächst wieder auf die Scala zurück, so befriedigt sie nicht nur durch ihre Stetigkeit, (relative) Abwechslung und Periodicität, sondern durch die unwandelbare Beziehung aller ihrer Einzel- töne zum Grundton; sie ist eigentlich nichts als dieses, daß der Grundton eine Tonreihe anhebt, welche zu ihm selbst (Prim oder Octave) zurückgeht, und welcher man, auch bevor dieß erreicht ist, diese Beziehung auf ihn
haben. In erſter Beziehung darf ſie nicht einförmig und träg hinundher- ſchleichen, um den Grundton ermüdend ſich herumbewegen, wie ſo viele Kanon- und Madrigalmelodien älterer Jahrhunderte (die Kieſewetter’s Ge- ſchichte der Muſik mittheilt); ſie darf auch nicht auf den Grad von Inter- vallenwechſel ſich beſchränken, den die Scala anwendet, da in dieſer doch zu wenig Mannigfaltigkeit der Abwechslung iſt, als daß ſie für ſich befriedigen könnte; neben dem ſtetigen Fluß iſt Mannigfaltigkeit der Hebung und Senkung, der Schritte und Wendungen unerläßliches Geſetz. In zweiter Beziehung aber muß die Tonfolge aus ebenſo zuſammengehörigen als ſich gegen einander abgrenzenden Gliedern beſtehen, ſie iſt ſo anzulegen, daß von einem Ton aus ein gewiſſer Fortgang durch mehrere Töne bis zu einem Puncte gemacht wird, mit welchem dann eine neue, von der vorher- gehenden etwas abgehende Wendung des Fortgangs deutlich eintritt, auf dieſe Wendung wieder eine andere folgt u. ſ. w. III. Indeß auch damit haben wir noch nicht die ganze muſikaliſche Kunſtform; man vergleiche z. B. eine mit einer Melodie in gleichem Schritte fortgehende nächſtuntere Be- gleitungsſtimme, die nicht ſelbſt wieder melodiſch geführt iſt; in einer ſolchen kann alles bisher Geforderte beiſammen ſein, und doch fehlt ihr noch gar Vieles zur muſikaliſchen Form, ſie leuchtet nicht ein, ſie bedeutet nichts, ſie hat keinen Charakter, keine Motivirung und Natürlichkeit des Fortſchritts und Verlaufs, kein Leben und keinen Schwung, ſie gefällt nicht. Darin erſt, auch Dieſes hinzuzuthun, ruht das Geheimniß der Muſik; wie es aber hinzuzuthun ſei (oder was volle muſikaliſche Form gebe, was die Melodie ſchließlich zur Melodie mache), dieß zu definiren, iſt einer der ſchwierigſten Puncte der muſikaliſchen Aeſthetik. Erforderlich hiezu iſt weiter 1) Dieſes, daß der Fortgang nicht blos ſtetig, wechſelnd, periodiſch, ſondern zugleich gebunden iſt durch die in ſeinem Verlauf ſtets feſtgehaltene Beziehung zu einem Grundton. Ein Tonbild, ein vollkommen einheitliches Tonganzes, entſteht erſt dann, wenn die Tonfolge ein Aufundabſteigen von einem Grundton aus iſt, das die Beziehung zu dieſem Grundton ſtets durch- ſcheinen läßt und daher am Ende auch wieder in ihn zurückgeht (ein Geſetz, das ſich ſelbſt dann nicht aufhebt, wenn ein Tonwerk aus mehreren Ton- ſtücken mit verſchiedenen Grundtönen beſteht, indem dieſe Grundtöne der einzelnen Stücke doch in Beziehung zu einander ſtehen und wo möglich der Grundton des letzten Tonſtücks mit dem des erſten identiſch iſt). Gehen wir zum Behuf beſtimmterer Orientirung zunächſt wieder auf die Scala zurück, ſo befriedigt ſie nicht nur durch ihre Stetigkeit, (relative) Abwechslung und Periodicität, ſondern durch die unwandelbare Beziehung aller ihrer Einzel- töne zum Grundton; ſie iſt eigentlich nichts als dieſes, daß der Grundton eine Tonreihe anhebt, welche zu ihm ſelbſt (Prim oder Octave) zurückgeht, und welcher man, auch bevor dieß erreicht iſt, dieſe Beziehung auf ihn
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0155"n="917"/>
haben. In erſter Beziehung darf ſie nicht einförmig und träg hinundher-<lb/>ſchleichen, um den Grundton ermüdend ſich herumbewegen, wie ſo viele<lb/>
Kanon- und Madrigalmelodien älterer Jahrhunderte (die Kieſewetter’s Ge-<lb/>ſchichte der Muſik mittheilt); ſie darf auch nicht auf den Grad von Inter-<lb/>
vallenwechſel ſich beſchränken, den die Scala anwendet, da in dieſer doch zu<lb/>
wenig Mannigfaltigkeit der Abwechslung iſt, als daß ſie für ſich befriedigen<lb/>
könnte; neben dem ſtetigen Fluß iſt Mannigfaltigkeit der Hebung und<lb/>
Senkung, der Schritte und Wendungen unerläßliches Geſetz. In zweiter<lb/>
Beziehung aber muß die Tonfolge aus ebenſo zuſammengehörigen als ſich<lb/>
gegen einander abgrenzenden <hirendition="#g">Gliedern</hi> beſtehen, ſie iſt ſo anzulegen, daß<lb/>
von einem Ton aus ein gewiſſer Fortgang durch mehrere Töne bis zu<lb/>
einem Puncte gemacht wird, mit welchem dann eine neue, von der vorher-<lb/>
gehenden etwas abgehende Wendung des Fortgangs deutlich eintritt, auf<lb/>
dieſe Wendung wieder eine andere folgt u. ſ. w. <hirendition="#aq">III.</hi> Indeß auch damit<lb/>
haben wir noch nicht die ganze muſikaliſche Kunſtform; man vergleiche z. B.<lb/>
eine mit einer Melodie in gleichem Schritte fortgehende nächſtuntere Be-<lb/>
gleitungsſtimme, die nicht ſelbſt wieder melodiſch geführt iſt; in einer ſolchen<lb/>
kann alles bisher Geforderte beiſammen ſein, und doch fehlt ihr noch gar<lb/>
Vieles zur muſikaliſchen Form, ſie leuchtet nicht ein, ſie bedeutet nichts, ſie<lb/>
hat keinen Charakter, keine Motivirung und Natürlichkeit des Fortſchritts<lb/>
und Verlaufs, kein Leben und keinen Schwung, ſie gefällt nicht. Darin<lb/>
erſt, auch Dieſes hinzuzuthun, ruht das Geheimniß der Muſik; wie es aber<lb/>
hinzuzuthun ſei (oder was volle muſikaliſche Form gebe, was die Melodie<lb/>ſchließlich zur Melodie mache), dieß zu definiren, iſt einer der ſchwierigſten<lb/>
Puncte der muſikaliſchen Aeſthetik. Erforderlich hiezu iſt weiter 1) Dieſes,<lb/>
daß der Fortgang nicht blos ſtetig, wechſelnd, periodiſch, ſondern zugleich<lb/>
gebunden iſt durch die in ſeinem Verlauf ſtets feſtgehaltene <hirendition="#g">Beziehung zu<lb/>
einem Grundton</hi>. Ein Tonbild, ein vollkommen einheitliches Tonganzes,<lb/>
entſteht erſt dann, wenn die Tonfolge ein Aufundabſteigen von einem<lb/>
Grundton aus iſt, das die Beziehung zu dieſem Grundton ſtets durch-<lb/>ſcheinen läßt und daher am Ende auch wieder in ihn zurückgeht (ein Geſetz,<lb/>
das ſich ſelbſt dann nicht aufhebt, wenn ein Tonwerk aus mehreren Ton-<lb/>ſtücken mit verſchiedenen Grundtönen beſteht, indem dieſe Grundtöne der<lb/>
einzelnen Stücke doch in Beziehung zu einander ſtehen und wo möglich der<lb/>
Grundton des letzten Tonſtücks mit dem des erſten identiſch iſt). Gehen wir<lb/>
zum Behuf beſtimmterer Orientirung zunächſt wieder auf die Scala zurück,<lb/>ſo befriedigt ſie nicht nur durch ihre Stetigkeit, (relative) Abwechslung und<lb/>
Periodicität, ſondern durch die unwandelbare Beziehung aller ihrer Einzel-<lb/>
töne zum Grundton; ſie iſt eigentlich nichts als dieſes, daß der Grundton<lb/>
eine Tonreihe anhebt, welche zu ihm ſelbſt (Prim oder Octave) zurückgeht,<lb/>
und welcher man, auch bevor dieß erreicht iſt, dieſe Beziehung auf ihn<lb/></hi></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[917/0155]
haben. In erſter Beziehung darf ſie nicht einförmig und träg hinundher-
ſchleichen, um den Grundton ermüdend ſich herumbewegen, wie ſo viele
Kanon- und Madrigalmelodien älterer Jahrhunderte (die Kieſewetter’s Ge-
ſchichte der Muſik mittheilt); ſie darf auch nicht auf den Grad von Inter-
vallenwechſel ſich beſchränken, den die Scala anwendet, da in dieſer doch zu
wenig Mannigfaltigkeit der Abwechslung iſt, als daß ſie für ſich befriedigen
könnte; neben dem ſtetigen Fluß iſt Mannigfaltigkeit der Hebung und
Senkung, der Schritte und Wendungen unerläßliches Geſetz. In zweiter
Beziehung aber muß die Tonfolge aus ebenſo zuſammengehörigen als ſich
gegen einander abgrenzenden Gliedern beſtehen, ſie iſt ſo anzulegen, daß
von einem Ton aus ein gewiſſer Fortgang durch mehrere Töne bis zu
einem Puncte gemacht wird, mit welchem dann eine neue, von der vorher-
gehenden etwas abgehende Wendung des Fortgangs deutlich eintritt, auf
dieſe Wendung wieder eine andere folgt u. ſ. w. III. Indeß auch damit
haben wir noch nicht die ganze muſikaliſche Kunſtform; man vergleiche z. B.
eine mit einer Melodie in gleichem Schritte fortgehende nächſtuntere Be-
gleitungsſtimme, die nicht ſelbſt wieder melodiſch geführt iſt; in einer ſolchen
kann alles bisher Geforderte beiſammen ſein, und doch fehlt ihr noch gar
Vieles zur muſikaliſchen Form, ſie leuchtet nicht ein, ſie bedeutet nichts, ſie
hat keinen Charakter, keine Motivirung und Natürlichkeit des Fortſchritts
und Verlaufs, kein Leben und keinen Schwung, ſie gefällt nicht. Darin
erſt, auch Dieſes hinzuzuthun, ruht das Geheimniß der Muſik; wie es aber
hinzuzuthun ſei (oder was volle muſikaliſche Form gebe, was die Melodie
ſchließlich zur Melodie mache), dieß zu definiren, iſt einer der ſchwierigſten
Puncte der muſikaliſchen Aeſthetik. Erforderlich hiezu iſt weiter 1) Dieſes,
daß der Fortgang nicht blos ſtetig, wechſelnd, periodiſch, ſondern zugleich
gebunden iſt durch die in ſeinem Verlauf ſtets feſtgehaltene Beziehung zu
einem Grundton. Ein Tonbild, ein vollkommen einheitliches Tonganzes,
entſteht erſt dann, wenn die Tonfolge ein Aufundabſteigen von einem
Grundton aus iſt, das die Beziehung zu dieſem Grundton ſtets durch-
ſcheinen läßt und daher am Ende auch wieder in ihn zurückgeht (ein Geſetz,
das ſich ſelbſt dann nicht aufhebt, wenn ein Tonwerk aus mehreren Ton-
ſtücken mit verſchiedenen Grundtönen beſteht, indem dieſe Grundtöne der
einzelnen Stücke doch in Beziehung zu einander ſtehen und wo möglich der
Grundton des letzten Tonſtücks mit dem des erſten identiſch iſt). Gehen wir
zum Behuf beſtimmterer Orientirung zunächſt wieder auf die Scala zurück,
ſo befriedigt ſie nicht nur durch ihre Stetigkeit, (relative) Abwechslung und
Periodicität, ſondern durch die unwandelbare Beziehung aller ihrer Einzel-
töne zum Grundton; ſie iſt eigentlich nichts als dieſes, daß der Grundton
eine Tonreihe anhebt, welche zu ihm ſelbſt (Prim oder Octave) zurückgeht,
und welcher man, auch bevor dieß erreicht iſt, dieſe Beziehung auf ihn
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 917. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/155>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.