Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

in sich zusammenhängendes, concretes Tonbild, die letztere dagegen nicht;
und diese Differenz hat darin ihren Grund, daß die erste eine stetige Ton-
folge ist, eine Tonfolge, die continuirlich von einem Momente zum andern,
nächstgelegenen fortschreitet, eine Reihe, in der Eines eng an das Andere
sich fügt, Eines zum Andern fortführt, in's Andere überfließt; es ist in ihr
eine Reihenordnung, ein Zusammenhang, ein aus vielen sich an einander
reihenden Gliedern erwachsendes Gefüge, das eben hiemit nicht eine leere,
abstracte, dürre, starre Form, sondern ein inhalterfülltes und ein lebendig,
organisch in sich fortschreitendes Ganzes ist; sie hat concrete Fülle, und sie
hat Fluß und Leben, sie ist eine nirgends abgebrochene, fortströmende Linie,
nicht eine Reihe weniger getrennter Puncte, die blos in einer Linie liegen,
ohne wirklich eine zu bilden. Die Bewegung blos auf jenen Intervallen
dagegen führt zwar wohlthuende und charakteristische Tonverhältnisse vor
(§. 770), aber in zu discreter Getrenntheit, zu fern von einander und mit
zu großen Lücken, und darum macht sie den Eindruck einer blos abstracten
Form, einer Form ohne geformtes Material, eines Rahmens ohne concreten
Inhalt, einer unzusammenhängenden Punctenreihe. Zur musikalischen Form
gehört also nicht blos Wechsel von Höhe und Tiefe überhaupt, sondern
dabei zweitens ein mehr oder weniger continuirliches Aufundabwandeln auf
Tönen der Leiter, kurz Stetigkeit, Fluß der Tonfolge (Melodie).
Der discontinuirliche Wechsel zwischen entlegenen Tönen (z. B. das An-
schlagen der Hauptintervalle) ist zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, er
kann am gehörigen Ort auch seine Dienste thun, wenn es der Sache oder
des Ausdrucks wegen vorübergehend um eine weniger stetige Tonfolge sich
handelt, aber Stetigkeit ist das Vorherrschende, und sie kann oft (z. B. in
Läufen) ganz für sich allein befriedigen, da stetig auf einander folgende
Töne bereits ein concretes Tonganzes, eine Tonlinie, eine Tonfigur geben.
Nur darf diese den Charakter des Stetigen an sich tragende Tonfolge weder
ein leeres, unterschiedsloses Einerlei, noch eine Reihe ohne distincte Gliederung
sein, wenn sie Kunstform sein will; die Scala z. B. ist (§. 771) dieses
erst, wenn sie so gebildet ist, daß der Wechsel zwischen ganzen und halben
Tonweiten und die Periodisirung durch die Halbtöne Mannigfaltigkeit und
Gliederung in sie hineinbringen. Als drittes und viertes Erforderniß der
musikalischen Form stellt sich mithin heraus, daß die Tonfolge einen zwar
vorherrschend, aber nicht absolut stetigen, keinen gleichförmigen, stets in
denselben Tonweiten sich bewegenden, sondern einen zwischen verschiedenen
Tonweiten wechselnden Fortgang habe, und daß derselbe kein aggregatartiger,
sondern ein in sich gegliederter, gruppirter Fortgang, oder daß sie eine in
kleinere Reihen sich theilende und dadurch ebenso mannigfaltige als wiederum
ebenmäßige, leicht überschauliche und zur Einheit zusammenzufassende Tonreihe
sei; kurz die Tonfolge muß Intervallenwechsel und Periodicität

in ſich zuſammenhängendes, concretes Tonbild, die letztere dagegen nicht;
und dieſe Differenz hat darin ihren Grund, daß die erſte eine ſtetige Ton-
folge iſt, eine Tonfolge, die continuirlich von einem Momente zum andern,
nächſtgelegenen fortſchreitet, eine Reihe, in der Eines eng an das Andere
ſich fügt, Eines zum Andern fortführt, in’s Andere überfließt; es iſt in ihr
eine Reihenordnung, ein Zuſammenhang, ein aus vielen ſich an einander
reihenden Gliedern erwachſendes Gefüge, das eben hiemit nicht eine leere,
abſtracte, dürre, ſtarre Form, ſondern ein inhalterfülltes und ein lebendig,
organiſch in ſich fortſchreitendes Ganzes iſt; ſie hat concrete Fülle, und ſie
hat Fluß und Leben, ſie iſt eine nirgends abgebrochene, fortſtrömende Linie,
nicht eine Reihe weniger getrennter Puncte, die blos in einer Linie liegen,
ohne wirklich eine zu bilden. Die Bewegung blos auf jenen Intervallen
dagegen führt zwar wohlthuende und charakteriſtiſche Tonverhältniſſe vor
(§. 770), aber in zu discreter Getrenntheit, zu fern von einander und mit
zu großen Lücken, und darum macht ſie den Eindruck einer blos abſtracten
Form, einer Form ohne geformtes Material, eines Rahmens ohne concreten
Inhalt, einer unzuſammenhängenden Punctenreihe. Zur muſikaliſchen Form
gehört alſo nicht blos Wechſel von Höhe und Tiefe überhaupt, ſondern
dabei zweitens ein mehr oder weniger continuirliches Aufundabwandeln auf
Tönen der Leiter, kurz Stetigkeit, Fluß der Tonfolge (Melodie).
Der discontinuirliche Wechſel zwiſchen entlegenen Tönen (z. B. das An-
ſchlagen der Hauptintervalle) iſt zwar nicht ſchlechthin ausgeſchloſſen, er
kann am gehörigen Ort auch ſeine Dienſte thun, wenn es der Sache oder
des Ausdrucks wegen vorübergehend um eine weniger ſtetige Tonfolge ſich
handelt, aber Stetigkeit iſt das Vorherrſchende, und ſie kann oft (z. B. in
Läufen) ganz für ſich allein befriedigen, da ſtetig auf einander folgende
Töne bereits ein concretes Tonganzes, eine Tonlinie, eine Tonfigur geben.
Nur darf dieſe den Charakter des Stetigen an ſich tragende Tonfolge weder
ein leeres, unterſchiedsloſes Einerlei, noch eine Reihe ohne diſtincte Gliederung
ſein, wenn ſie Kunſtform ſein will; die Scala z. B. iſt (§. 771) dieſes
erſt, wenn ſie ſo gebildet iſt, daß der Wechſel zwiſchen ganzen und halben
Tonweiten und die Periodiſirung durch die Halbtöne Mannigfaltigkeit und
Gliederung in ſie hineinbringen. Als drittes und viertes Erforderniß der
muſikaliſchen Form ſtellt ſich mithin heraus, daß die Tonfolge einen zwar
vorherrſchend, aber nicht abſolut ſtetigen, keinen gleichförmigen, ſtets in
denſelben Tonweiten ſich bewegenden, ſondern einen zwiſchen verſchiedenen
Tonweiten wechſelnden Fortgang habe, und daß derſelbe kein aggregatartiger,
ſondern ein in ſich gegliederter, gruppirter Fortgang, oder daß ſie eine in
kleinere Reihen ſich theilende und dadurch ebenſo mannigfaltige als wiederum
ebenmäßige, leicht überſchauliche und zur Einheit zuſammenzufaſſende Tonreihe
ſei; kurz die Tonfolge muß Intervallenwechſel und Periodicität

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0154" n="916"/>
in &#x017F;ich zu&#x017F;ammenhängendes, concretes Tonbild, die letztere dagegen nicht;<lb/>
und die&#x017F;e Differenz hat darin ihren Grund, daß die er&#x017F;te eine &#x017F;tetige Ton-<lb/>
folge i&#x017F;t, eine Tonfolge, die continuirlich von einem Momente zum andern,<lb/>
näch&#x017F;tgelegenen fort&#x017F;chreitet, eine Reihe, in der Eines eng an das Andere<lb/>
&#x017F;ich fügt, Eines zum Andern fortführt, in&#x2019;s Andere überfließt; es i&#x017F;t in ihr<lb/>
eine Reihenordnung, ein Zu&#x017F;ammenhang, ein aus vielen &#x017F;ich an einander<lb/>
reihenden Gliedern erwach&#x017F;endes Gefüge, das eben hiemit nicht eine leere,<lb/>
ab&#x017F;tracte, dürre, &#x017F;tarre Form, &#x017F;ondern ein inhalterfülltes und ein lebendig,<lb/>
organi&#x017F;ch in &#x017F;ich fort&#x017F;chreitendes Ganzes i&#x017F;t; &#x017F;ie hat concrete Fülle, und &#x017F;ie<lb/>
hat Fluß und Leben, &#x017F;ie i&#x017F;t eine nirgends abgebrochene, fort&#x017F;trömende Linie,<lb/>
nicht eine Reihe weniger getrennter Puncte, die blos in einer Linie liegen,<lb/>
ohne wirklich eine zu bilden. Die Bewegung blos auf jenen Intervallen<lb/>
dagegen führt zwar wohlthuende und charakteri&#x017F;ti&#x017F;che Tonverhältni&#x017F;&#x017F;e vor<lb/>
(§. 770), aber in zu discreter Getrenntheit, zu fern von einander und mit<lb/>
zu großen Lücken, und darum macht &#x017F;ie den Eindruck einer blos ab&#x017F;tracten<lb/>
Form, einer Form ohne geformtes Material, eines Rahmens ohne concreten<lb/>
Inhalt, einer unzu&#x017F;ammenhängenden Punctenreihe. Zur mu&#x017F;ikali&#x017F;chen Form<lb/>
gehört al&#x017F;o nicht blos Wech&#x017F;el von Höhe und Tiefe überhaupt, &#x017F;ondern<lb/>
dabei zweitens ein mehr oder weniger continuirliches Aufundabwandeln auf<lb/>
Tönen der Leiter, kurz <hi rendition="#g">Stetigkeit, Fluß der Tonfolge</hi> (Melodie).<lb/>
Der discontinuirliche Wech&#x017F;el zwi&#x017F;chen entlegenen Tönen (z. B. das An-<lb/>
&#x017F;chlagen der Hauptintervalle) i&#x017F;t zwar nicht &#x017F;chlechthin ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, er<lb/>
kann am gehörigen Ort auch &#x017F;eine Dien&#x017F;te thun, wenn es der Sache oder<lb/>
des Ausdrucks wegen vorübergehend um eine weniger &#x017F;tetige Tonfolge &#x017F;ich<lb/>
handelt, aber Stetigkeit i&#x017F;t das Vorherr&#x017F;chende, und &#x017F;ie kann oft (z. B. in<lb/>
Läufen) ganz für &#x017F;ich allein befriedigen, da &#x017F;tetig auf einander folgende<lb/>
Töne bereits ein concretes Tonganzes, eine Tonlinie, eine Tonfigur geben.<lb/>
Nur darf die&#x017F;e den Charakter des Stetigen an &#x017F;ich tragende Tonfolge weder<lb/>
ein leeres, unter&#x017F;chiedslo&#x017F;es Einerlei, noch eine Reihe ohne di&#x017F;tincte Gliederung<lb/>
&#x017F;ein, wenn &#x017F;ie Kun&#x017F;tform &#x017F;ein will; die Scala z. B. i&#x017F;t (§. 771) die&#x017F;es<lb/>
er&#x017F;t, wenn &#x017F;ie &#x017F;o gebildet i&#x017F;t, daß der Wech&#x017F;el zwi&#x017F;chen ganzen und halben<lb/>
Tonweiten und die Periodi&#x017F;irung durch die Halbtöne Mannigfaltigkeit und<lb/>
Gliederung in &#x017F;ie hineinbringen. Als drittes und viertes Erforderniß der<lb/>
mu&#x017F;ikali&#x017F;chen Form &#x017F;tellt &#x017F;ich mithin heraus, daß die Tonfolge einen zwar<lb/>
vorherr&#x017F;chend, aber nicht ab&#x017F;olut &#x017F;tetigen, keinen gleichförmigen, &#x017F;tets in<lb/>
den&#x017F;elben Tonweiten &#x017F;ich bewegenden, &#x017F;ondern einen zwi&#x017F;chen ver&#x017F;chiedenen<lb/>
Tonweiten wech&#x017F;elnden Fortgang habe, und daß der&#x017F;elbe kein aggregatartiger,<lb/>
&#x017F;ondern ein in &#x017F;ich gegliederter, gruppirter Fortgang, oder daß &#x017F;ie eine in<lb/>
kleinere Reihen &#x017F;ich theilende und dadurch eben&#x017F;o mannigfaltige als wiederum<lb/>
ebenmäßige, leicht über&#x017F;chauliche und zur Einheit zu&#x017F;ammenzufa&#x017F;&#x017F;ende Tonreihe<lb/>
&#x017F;ei; kurz die Tonfolge muß <hi rendition="#g">Intervallenwech&#x017F;el</hi> und <hi rendition="#g">Periodicität</hi><lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[916/0154] in ſich zuſammenhängendes, concretes Tonbild, die letztere dagegen nicht; und dieſe Differenz hat darin ihren Grund, daß die erſte eine ſtetige Ton- folge iſt, eine Tonfolge, die continuirlich von einem Momente zum andern, nächſtgelegenen fortſchreitet, eine Reihe, in der Eines eng an das Andere ſich fügt, Eines zum Andern fortführt, in’s Andere überfließt; es iſt in ihr eine Reihenordnung, ein Zuſammenhang, ein aus vielen ſich an einander reihenden Gliedern erwachſendes Gefüge, das eben hiemit nicht eine leere, abſtracte, dürre, ſtarre Form, ſondern ein inhalterfülltes und ein lebendig, organiſch in ſich fortſchreitendes Ganzes iſt; ſie hat concrete Fülle, und ſie hat Fluß und Leben, ſie iſt eine nirgends abgebrochene, fortſtrömende Linie, nicht eine Reihe weniger getrennter Puncte, die blos in einer Linie liegen, ohne wirklich eine zu bilden. Die Bewegung blos auf jenen Intervallen dagegen führt zwar wohlthuende und charakteriſtiſche Tonverhältniſſe vor (§. 770), aber in zu discreter Getrenntheit, zu fern von einander und mit zu großen Lücken, und darum macht ſie den Eindruck einer blos abſtracten Form, einer Form ohne geformtes Material, eines Rahmens ohne concreten Inhalt, einer unzuſammenhängenden Punctenreihe. Zur muſikaliſchen Form gehört alſo nicht blos Wechſel von Höhe und Tiefe überhaupt, ſondern dabei zweitens ein mehr oder weniger continuirliches Aufundabwandeln auf Tönen der Leiter, kurz Stetigkeit, Fluß der Tonfolge (Melodie). Der discontinuirliche Wechſel zwiſchen entlegenen Tönen (z. B. das An- ſchlagen der Hauptintervalle) iſt zwar nicht ſchlechthin ausgeſchloſſen, er kann am gehörigen Ort auch ſeine Dienſte thun, wenn es der Sache oder des Ausdrucks wegen vorübergehend um eine weniger ſtetige Tonfolge ſich handelt, aber Stetigkeit iſt das Vorherrſchende, und ſie kann oft (z. B. in Läufen) ganz für ſich allein befriedigen, da ſtetig auf einander folgende Töne bereits ein concretes Tonganzes, eine Tonlinie, eine Tonfigur geben. Nur darf dieſe den Charakter des Stetigen an ſich tragende Tonfolge weder ein leeres, unterſchiedsloſes Einerlei, noch eine Reihe ohne diſtincte Gliederung ſein, wenn ſie Kunſtform ſein will; die Scala z. B. iſt (§. 771) dieſes erſt, wenn ſie ſo gebildet iſt, daß der Wechſel zwiſchen ganzen und halben Tonweiten und die Periodiſirung durch die Halbtöne Mannigfaltigkeit und Gliederung in ſie hineinbringen. Als drittes und viertes Erforderniß der muſikaliſchen Form ſtellt ſich mithin heraus, daß die Tonfolge einen zwar vorherrſchend, aber nicht abſolut ſtetigen, keinen gleichförmigen, ſtets in denſelben Tonweiten ſich bewegenden, ſondern einen zwiſchen verſchiedenen Tonweiten wechſelnden Fortgang habe, und daß derſelbe kein aggregatartiger, ſondern ein in ſich gegliederter, gruppirter Fortgang, oder daß ſie eine in kleinere Reihen ſich theilende und dadurch ebenſo mannigfaltige als wiederum ebenmäßige, leicht überſchauliche und zur Einheit zuſammenzufaſſende Tonreihe ſei; kurz die Tonfolge muß Intervallenwechſel und Periodicität

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/154
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 916. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/154>, abgerufen am 02.05.2024.