in sich zusammenhängendes, concretes Tonbild, die letztere dagegen nicht; und diese Differenz hat darin ihren Grund, daß die erste eine stetige Ton- folge ist, eine Tonfolge, die continuirlich von einem Momente zum andern, nächstgelegenen fortschreitet, eine Reihe, in der Eines eng an das Andere sich fügt, Eines zum Andern fortführt, in's Andere überfließt; es ist in ihr eine Reihenordnung, ein Zusammenhang, ein aus vielen sich an einander reihenden Gliedern erwachsendes Gefüge, das eben hiemit nicht eine leere, abstracte, dürre, starre Form, sondern ein inhalterfülltes und ein lebendig, organisch in sich fortschreitendes Ganzes ist; sie hat concrete Fülle, und sie hat Fluß und Leben, sie ist eine nirgends abgebrochene, fortströmende Linie, nicht eine Reihe weniger getrennter Puncte, die blos in einer Linie liegen, ohne wirklich eine zu bilden. Die Bewegung blos auf jenen Intervallen dagegen führt zwar wohlthuende und charakteristische Tonverhältnisse vor (§. 770), aber in zu discreter Getrenntheit, zu fern von einander und mit zu großen Lücken, und darum macht sie den Eindruck einer blos abstracten Form, einer Form ohne geformtes Material, eines Rahmens ohne concreten Inhalt, einer unzusammenhängenden Punctenreihe. Zur musikalischen Form gehört also nicht blos Wechsel von Höhe und Tiefe überhaupt, sondern dabei zweitens ein mehr oder weniger continuirliches Aufundabwandeln auf Tönen der Leiter, kurz Stetigkeit, Fluß der Tonfolge (Melodie). Der discontinuirliche Wechsel zwischen entlegenen Tönen (z. B. das An- schlagen der Hauptintervalle) ist zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, er kann am gehörigen Ort auch seine Dienste thun, wenn es der Sache oder des Ausdrucks wegen vorübergehend um eine weniger stetige Tonfolge sich handelt, aber Stetigkeit ist das Vorherrschende, und sie kann oft (z. B. in Läufen) ganz für sich allein befriedigen, da stetig auf einander folgende Töne bereits ein concretes Tonganzes, eine Tonlinie, eine Tonfigur geben. Nur darf diese den Charakter des Stetigen an sich tragende Tonfolge weder ein leeres, unterschiedsloses Einerlei, noch eine Reihe ohne distincte Gliederung sein, wenn sie Kunstform sein will; die Scala z. B. ist (§. 771) dieses erst, wenn sie so gebildet ist, daß der Wechsel zwischen ganzen und halben Tonweiten und die Periodisirung durch die Halbtöne Mannigfaltigkeit und Gliederung in sie hineinbringen. Als drittes und viertes Erforderniß der musikalischen Form stellt sich mithin heraus, daß die Tonfolge einen zwar vorherrschend, aber nicht absolut stetigen, keinen gleichförmigen, stets in denselben Tonweiten sich bewegenden, sondern einen zwischen verschiedenen Tonweiten wechselnden Fortgang habe, und daß derselbe kein aggregatartiger, sondern ein in sich gegliederter, gruppirter Fortgang, oder daß sie eine in kleinere Reihen sich theilende und dadurch ebenso mannigfaltige als wiederum ebenmäßige, leicht überschauliche und zur Einheit zusammenzufassende Tonreihe sei; kurz die Tonfolge muß Intervallenwechsel und Periodicität
in ſich zuſammenhängendes, concretes Tonbild, die letztere dagegen nicht; und dieſe Differenz hat darin ihren Grund, daß die erſte eine ſtetige Ton- folge iſt, eine Tonfolge, die continuirlich von einem Momente zum andern, nächſtgelegenen fortſchreitet, eine Reihe, in der Eines eng an das Andere ſich fügt, Eines zum Andern fortführt, in’s Andere überfließt; es iſt in ihr eine Reihenordnung, ein Zuſammenhang, ein aus vielen ſich an einander reihenden Gliedern erwachſendes Gefüge, das eben hiemit nicht eine leere, abſtracte, dürre, ſtarre Form, ſondern ein inhalterfülltes und ein lebendig, organiſch in ſich fortſchreitendes Ganzes iſt; ſie hat concrete Fülle, und ſie hat Fluß und Leben, ſie iſt eine nirgends abgebrochene, fortſtrömende Linie, nicht eine Reihe weniger getrennter Puncte, die blos in einer Linie liegen, ohne wirklich eine zu bilden. Die Bewegung blos auf jenen Intervallen dagegen führt zwar wohlthuende und charakteriſtiſche Tonverhältniſſe vor (§. 770), aber in zu discreter Getrenntheit, zu fern von einander und mit zu großen Lücken, und darum macht ſie den Eindruck einer blos abſtracten Form, einer Form ohne geformtes Material, eines Rahmens ohne concreten Inhalt, einer unzuſammenhängenden Punctenreihe. Zur muſikaliſchen Form gehört alſo nicht blos Wechſel von Höhe und Tiefe überhaupt, ſondern dabei zweitens ein mehr oder weniger continuirliches Aufundabwandeln auf Tönen der Leiter, kurz Stetigkeit, Fluß der Tonfolge (Melodie). Der discontinuirliche Wechſel zwiſchen entlegenen Tönen (z. B. das An- ſchlagen der Hauptintervalle) iſt zwar nicht ſchlechthin ausgeſchloſſen, er kann am gehörigen Ort auch ſeine Dienſte thun, wenn es der Sache oder des Ausdrucks wegen vorübergehend um eine weniger ſtetige Tonfolge ſich handelt, aber Stetigkeit iſt das Vorherrſchende, und ſie kann oft (z. B. in Läufen) ganz für ſich allein befriedigen, da ſtetig auf einander folgende Töne bereits ein concretes Tonganzes, eine Tonlinie, eine Tonfigur geben. Nur darf dieſe den Charakter des Stetigen an ſich tragende Tonfolge weder ein leeres, unterſchiedsloſes Einerlei, noch eine Reihe ohne diſtincte Gliederung ſein, wenn ſie Kunſtform ſein will; die Scala z. B. iſt (§. 771) dieſes erſt, wenn ſie ſo gebildet iſt, daß der Wechſel zwiſchen ganzen und halben Tonweiten und die Periodiſirung durch die Halbtöne Mannigfaltigkeit und Gliederung in ſie hineinbringen. Als drittes und viertes Erforderniß der muſikaliſchen Form ſtellt ſich mithin heraus, daß die Tonfolge einen zwar vorherrſchend, aber nicht abſolut ſtetigen, keinen gleichförmigen, ſtets in denſelben Tonweiten ſich bewegenden, ſondern einen zwiſchen verſchiedenen Tonweiten wechſelnden Fortgang habe, und daß derſelbe kein aggregatartiger, ſondern ein in ſich gegliederter, gruppirter Fortgang, oder daß ſie eine in kleinere Reihen ſich theilende und dadurch ebenſo mannigfaltige als wiederum ebenmäßige, leicht überſchauliche und zur Einheit zuſammenzufaſſende Tonreihe ſei; kurz die Tonfolge muß Intervallenwechſel und Periodicität
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in ſich zuſammenhängendes, concretes Tonbild, die letztere dagegen nicht;
und dieſe Differenz hat darin ihren Grund, daß die erſte eine ſtetige Ton-
folge iſt, eine Tonfolge, die continuirlich von einem Momente zum andern,
nächſtgelegenen fortſchreitet, eine Reihe, in der Eines eng an das Andere
ſich fügt, Eines zum Andern fortführt, in’s Andere überfließt; es iſt in ihr
eine Reihenordnung, ein Zuſammenhang, ein aus vielen ſich an einander
reihenden Gliedern erwachſendes Gefüge, das eben hiemit nicht eine leere,
abſtracte, dürre, ſtarre Form, ſondern ein inhalterfülltes und ein lebendig,
organiſch in ſich fortſchreitendes Ganzes iſt; ſie hat concrete Fülle, und ſie
hat Fluß und Leben, ſie iſt eine nirgends abgebrochene, fortſtrömende Linie,
nicht eine Reihe weniger getrennter Puncte, die blos in einer Linie liegen,
ohne wirklich eine zu bilden. Die Bewegung blos auf jenen Intervallen
dagegen führt zwar wohlthuende und charakteriſtiſche Tonverhältniſſe vor
(§. 770), aber in zu discreter Getrenntheit, zu fern von einander und mit
zu großen Lücken, und darum macht ſie den Eindruck einer blos abſtracten
Form, einer Form ohne geformtes Material, eines Rahmens ohne concreten
Inhalt, einer unzuſammenhängenden Punctenreihe. Zur muſikaliſchen Form
gehört alſo nicht blos Wechſel von Höhe und Tiefe überhaupt, ſondern
dabei zweitens ein mehr oder weniger continuirliches Aufundabwandeln auf
Tönen der Leiter, kurz Stetigkeit, Fluß der Tonfolge (Melodie).
Der discontinuirliche Wechſel zwiſchen entlegenen Tönen (z. B. das An-
ſchlagen der Hauptintervalle) iſt zwar nicht ſchlechthin ausgeſchloſſen, er
kann am gehörigen Ort auch ſeine Dienſte thun, wenn es der Sache oder
des Ausdrucks wegen vorübergehend um eine weniger ſtetige Tonfolge ſich
handelt, aber Stetigkeit iſt das Vorherrſchende, und ſie kann oft (z. B. in
Läufen) ganz für ſich allein befriedigen, da ſtetig auf einander folgende
Töne bereits ein concretes Tonganzes, eine Tonlinie, eine Tonfigur geben.
Nur darf dieſe den Charakter des Stetigen an ſich tragende Tonfolge weder
ein leeres, unterſchiedsloſes Einerlei, noch eine Reihe ohne diſtincte Gliederung
ſein, wenn ſie Kunſtform ſein will; die Scala z. B. iſt (§. 771) dieſes
erſt, wenn ſie ſo gebildet iſt, daß der Wechſel zwiſchen ganzen und halben
Tonweiten und die Periodiſirung durch die Halbtöne Mannigfaltigkeit und
Gliederung in ſie hineinbringen. Als drittes und viertes Erforderniß der
muſikaliſchen Form ſtellt ſich mithin heraus, daß die Tonfolge einen zwar
vorherrſchend, aber nicht abſolut ſtetigen, keinen gleichförmigen, ſtets in
denſelben Tonweiten ſich bewegenden, ſondern einen zwiſchen verſchiedenen
Tonweiten wechſelnden Fortgang habe, und daß derſelbe kein aggregatartiger,
ſondern ein in ſich gegliederter, gruppirter Fortgang, oder daß ſie eine in
kleinere Reihen ſich theilende und dadurch ebenſo mannigfaltige als wiederum
ebenmäßige, leicht überſchauliche und zur Einheit zuſammenzufaſſende Tonreihe
ſei; kurz die Tonfolge muß Intervallenwechſel und Periodicität
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 916. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/154>, abgerufen am 25.11.2024.
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